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»Meistersinger«-Parodie als Volksoper?

Internationale Siegfried Wagner Gesellschaft e.V., Bayreuth

 

Zum musikalischen Lustspiel »Herzog Wildfang«

»Solche Skandal-Szenen, wie sie nach der Beendigung der Oper im Hoftheater sich abspielten, sind bisher in München noch nicht erlebt worden«, berichteten die Dresdner Neuesten Nachrichten über die Uraufführung der zweiten Oper Siegfried Wagners, am 23.3.1901 im Königlichen Münchner Hof- und Nationaltheater.
 
Was war geschehen? Die Wagnerianer waren empört über diese »Meistersinger«-Parodie, mit der sich der Erbe – ähnlich wie Richard Strauss mit seinem Sinngedicht »Feuersnot« – Abstand und Individualität zu erkämpfen trachtete, die Münchner Opernfreunde nahmen die Uraufführung des Wagner-Sohnes zum Anlass, ihren Unmut über Bayreuths Kulturpolitik zum Ausdruck zu bringen, und die Freunde des Genres einer unbeschwerten Märchenoper waren über dieses politische und obendrein unmoralische Lustspiel düpiert.
 
Obgleich das noch Ouvertüre benannte einleitende Orchesterstück von rund 11 Minuten Dauer als Skizze schon vor der Komposition des ersten Aktes existierte, wurde die Partitur in guter alter Operntradition erst nach Vollendung des Werkes – am 24. Oktober 1900 in Montreux – zu Papier gebracht. Zwar ist die Atonalität der Gärtner-Szene nicht in die Ouvertüre eingeflossen, aber das motorische Hauptmotiv der Räte-Szene – eine Antizipation von Krimi-Filmmusik – ist rhythmisch nicht weit von Strawinskys »Le Sacre du Printemps« (1913) entfernt. Wie zumeist bei Siegfried Wagners Bühnenwerken schildert die orchestrale Ouvertüre bereits in groben Umrissen die Grundstruktur der Opernhandlung:
 
 

In G-Dur eröffnet das pompös strahlende Motiv der Herrscherwürde den ersten Abschnitt. Dem Bild eines gottbegnadeten Fürsten wird mit dem zweiten Abschnitt (Allegro) das wilde, trotzig-ungestüme und zügellose Wesen des jungen Herzog Ulrich entgegengesetzt. Dieser Herzog Wildfang sehnt sich nach Freiheit von den ihm auferlegten Zwängen. Einem unaufgelösten Septimenakkord folgt der dritte Abschnitt der Exposition mit dem Fugato-Thema der Ratsherrn, wobei zunächst noch das Thema des Herzogs nervig dazwischenfunkt. Der zögernden Unentschlossenheit der Ratsherren auf die bedrohlich anwachsende Missstimmung des Volkes antwortet das aufrührerische Thema des herzoglichen Rates Blank. Die stark kontrapunktische Durchführung, in der bisweilen vier Themen übereinandergelagert ertönen, schildert den Kampf zwischen dem Herzog und dem selbsternannten Führer Matthias Blank um die Zuneigung des Volkes. Eine Generalpause, vor der das Motiv des Herzogs (diesmal in Moll) und das seines Widersachers nochmals ertönen, kündigt die Reprise an, mit dem Thema der Herrscherwürde und verschiedenen Themen des Volkes. Hinzu tritt ein Legato-Thema, welches sich jedoch als ein Herzogs-Thema erweist, das aus dem Motiv seines trotzigen Wesens abgeleitet ist. Es steht für den Reifeprozess des ungestüm-zügellosen Wildfangs, der sich mit dem Gelöbnis »Als Euer Herr dien ich euch fortan!« in sein Herrscheramt fügt.
 
Trotz der Warnung seines Junkers Kurt schießt Herzog Ulrich im ersten Akt der Oper Herzog Wildfang auf die mit der Haushälterin Kuni in einem Gebüsch versteckte Osterlind. In seiner verzweifelten Liebe zu dem Bürgermädchen, der Tochter seines Ratsherrn Thomas Burkhart, zielt er auf deren Herz, aber der Schuss aus seinem Gewehr trifft sie nur am Oberarm. Tatsächlich verliebt sich Osterlind in ihren Peiniger, dessen Spitznamen kurz darauf ihr Vater mit der Frage »Wer ist der Wildfang, der dieses Wild sich fing?« begründet. Die ohnmächtige Osterlind wird herbeigetragen. Als sie die Augen aufschlägt, trifft ihr Blick den Herzog und löst in ihm stärkste Sehnsucht aus: sein heißer Wunsch ist es, seine Tat an ihr in Liebe zu sühnen. Er will Krone und Thron hinter sich lassen und mit dem Bürgermädchen in die Freiheit fliehen. Während er ganz von dieser Idee erfüllt ist, kommentieren die Stimmen seines Junkers Kurt und des herbeigeeilten Volkes das jüngst Geschehene.
 
Von Reinharts junger Liebe erzählt die zentrale Szene im zweiten Akt, die von zahlreichen Bariton-Sängern bis zum Ende des 20. Jahrhunderts mit Sicherheit häufiger auf dem Konzertpodium und im Rundfunk zu hören war als auf der Opernbühne. Allerdings ist die Bühnenversion im zweiten Akt fast doppelt so lang: Reinhart ist aus dem Heer desertiert, um zu seines »Lebens wahrem Stern«, seiner Jugendliebe Osterlind zurückzukehren. Doch die hat sich gerade in den abgedankten Herzog Ulrich verliebt. Um den inkognito in der fränkischen Kleinstadt weilenden Exmonarchen und Schnellläufer ehelichen zu können, hat Osterlind einen Wettlauf ausrufen lassen – mit ihrer Hand als Siegespreis.
 
Reinharts sangliches, weit ausschwingendes Thema prägt seinen Auftritt. Er stellt Osterlind, deren Heiratsabsichten er soeben von ihrem Vater erfahren hat, zur Rede. Er weckt ihre Erinnerungen an ihr gemeinsames Abenteuer im Maintal, an das Erwachen ihrer jungen Liebe und an den ersten Kuss, bei dem das Liebesmotiv erklingt. Aber in der jungen Liebesbeziehung hatte es bald Streit gegeben, enttäuscht war er außer Landes in den Krieg gezogen, aber auch hier hatte ihn die Erinnerung an Osterlind, das Motiv der Liebe, nicht verlassen. Also war er desertiert und heimgekehrt, um zu erfahren, dass Osterlind sich dem Sieger im Wettlauf hinschenken wolle. Da ruft die Haushälterin Kuni der Osterlind zu, es sei Zeit für den Brief, den sie dem Herzog zukommen lassen will. Reinhart versucht, ihr den Brief zu entreißen, muss aber eingestehen, dass er hiermit zu weit gegangen ist. Das Orchester schildert mit einem Aufschrei und dumpfen Paukenschlägen die Situation seines Herzens. Mit einer traurigen Reminiszenz seines Themas geht er ab.
 
Typischer Jugendstil ist Reinharts Reime klingelnde Erzählung, auch in musikalischer Hinsicht, mit freier, sprachmelodischer Linienführung und weichen Modulationen bei einem überaus farbenreichen Orchestersatz, mit geteilten Streichern, schwirrenden Tremolos und lebhaften Figuren inmitten liegender, weiter Harmonien.
 
Mit diesen Bildern der Erinnerung und der anschließenden Schilderung seiner schlimmen Zeit in der Fremde hat Reinhart in Osterlind tiefe Gefühle geweckt, die all ihre Pläne mit dem Herzog zunichte machen werden. Tatsächlich wird am Ende der Oper nicht der Herzog, als Gewinner im Wettlauf, sondern Reinhart der Bürgerstochter Osterlind die Hand zum Ehebund reichen. 


 

Osterlind, das einzige Kind des Ratsherrn Thomas Burkhart, wird umworben von einer Schar von Freiern; sie favorisiert den inkognito in der kleinen Residenzstadt verweilenden, abgedankten Herzog Ulrich. Als ihr aus dem Heer desertierter Jugendfreund Reinhart wieder auftaucht und ihr die Erinnerung an gemeinsame Erlebnisse weckt, entscheidet sie sich für diesen. Sein Liebesmotiv erfüllt ihren Entschluss, mit dem sie – in C-Dur – vom launischen Kind zur jungen Frau reift; die Triole wird vom Orchester fortgesponnen. Jubelnd lässt sie die erste Silbe ihres Namens als Melismenkette im Sinne ihrer österlich neu erstandenen Liebe erschallen, untermalt von Arpeggien der Violinen. Das Liebesmotiv, zunächst im Orchester, dann auch in der Singstimme, bemächtigt sich ihrer und mündet in Reinharts Thema. In Des-Dur ist das Nachempfinden von Reinharts Erzählung getaucht, aber in a-Moll meldet sich das Thema des Herzogs als jenes Mannes, dem sie sich just versprochen hat. Mit dem eindringlich intensivierten Liebesmotiv bittet sie die Haushälterin Kuni, ihr aus ihrer Zwickmühle zu helfen. Mit Reinharts Thema in ihrer Singstimme, gelobt Osterlind, was auch kommen möge, einzig Reinhart zu lieben.
 
Herzog Wildfang – von Siegfried Wagner ursprünglich als Volksoper projektiert – enthält historische Elemente, obwohl sie Fiktion ist. Sie weist aber auch Sagenelemente auf, wie etwa im dritten Akt den rostigen Erbschlüssel im Gebetbuch der Wahrsagerin, des Wurzelweibs vom Hahnenkamm. Wie häufig in den Opern Siegfried Wagners, so erklingt auch in dieser Oper ein Walzer. Sehr lebhaft umreißt den Festesrausch des Kirchweihfestes das Es-Dur-Vorspiel zum dritten Akt. Dieser Tag soll durch einen Wettlauf die Entscheidung bringen, welcher der Freier Osterlinds ihre Hand erhält. Zunächst auf dem Tanzboden und dann auf dem freien Wiesenplan, inmitten von Marktbuden, entfaltet sich mit dem Kirmestanz ein ausgelassenes Tanztreiben. Die Konzertfassung integriert auch die erste Szene mit dem Klatsch der Marktweiber und dem sonderbaren Wurzelweib vom Hahnenkamm, bis die Marktweiber mitsamt ihren Ständen dem sich ausdehnenden Tanztreiben weichen müssen.
 
Das Wurzelweib vom Hahnenkamm ist noch nicht alt an Jahren und dem Index nach dem Sopranfach zugeordnet, der Tessitura nach jedoch ein Mezzo. Als Zauberrequisit für ihre Prognosen benutzt sie einen rostigen Erbschlüssel in einem Kirchenbuch. Das Buch steht für die Wahrheit, die von dem sich drehenden Schlüssel enthüllt wird. Das vom Wurzelweib offenbar geschickt manipulierte Requisit bildet den Anfang einer längeren Kette von mantischen Phänomenen in den Opernhandlungen Siegfried Wagners. Dem Wurzelweib ist kein eigenes Thema zugeordnet. Ihre Wahrsagungs-Angebote stehen im mäßigen 2/2-Takt, der immer von 6/8-Takten des Wettlauf-Geschehens unterbrochen wird. Eine Folge alterierter Sextakkorde, umspielt von Triolen im Halbtonschritt dis-cisis, chiffriert die magische Drehung des Schlüssels. Das Angebot des Wurzelweibs, in der zweiten Szene des dritten Aktes mit Hilfe des Schlüssels Osterlind den künftigen Gemahl zu prophezeien, nutzt im wahrsten Sinne einen Schlüssel für die Schlüsselszene; denn nicht der Herzog, als Gewinner im Wettlauf, sondern Reinhart wird schließlich Osterlind die Hand zum Ehebund reichen.


Peter P. Pachl


Quelle: Originalbeitrag des Autors für www.SIEGFRIED-WAGNER.org, 2014
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