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Traumgestalten unbewältigter Psyche

Internationale Siegfried Wagner Gesellschaft e.V., Bayreuth

 

Zur Entstehung der Oper

Siegfried Wagner Opus 3, Der Kobold, 1903 vollendet und 1904 in Hamburg uraufgeführt, wurde vom Komponisten selbst später oft als sein »Lieblingswerk« bezeichnet. Doch ganz im Gegensatz zum neckisch klingenden Titel ist die Oper ein sehr düsteres Drama, in welchem sich Siegfried Wagner mit der Frage auseinandersetzt, was mit der Seele von abgetriebenen oder gleich nach der Geburt getöteten Kindern passiert. Die nahe bevorstehende Geburt eines ungewollten leiblichen Kindes Siegfried Wagners ist wohl der Auslöser für die Behandlung dieser Thematik. Ende April des Jahres 1901 meldet der Komponist aus Berlin: »Bei der nächsten Oper gibt es Tränen. Mir ist selber schon bisschen bang davor«.

Im ersten Entstehungsjahr des Kobold 1901 inszeniert Siegfried Wagner in Bayreuth den »Holländer« seines Vaters Richard Wagner. Es ist Siegfried Wagners erste Bayreuther Inszenierung, mit der er den ursprünglichen Plan seines Vaters, das Werk als pausenlose Ballade zu spielen, erstmals verwirklicht.


 
Von geisterhafter Sphäre geprägt

Wie »Der fliegende Holländer«, so ist auch Der Kobold von einer geisterhaften Sphäre geprägt. Der Kobold, ein Sammelbegriff für Haus- und Naturgeister, gilt in Europa als Fabelwesen. Die Beschreibungen und Vorstellungen von Kobolden reichen von guten, fleißigen kleinen Männchen, bis hin zu bösen, hinterhältigen und spitzohrigen Bösewichten. Auch in Wagners Oper treffen wir mit den Protagonisten Seelchen und Galgenmännchen auf Vertreter beider Gruppen.

Wie schon in seiner ersten Oper Der Bärenhäuter (1898) schreibt Siegfried Wagner für den Kobold das Libretto selbst. Doch an der Dichtung übt Cosima Wagner heftige Kritik. Manches erscheint ihr zu opernhaft, das Vogellied überflüssig, die Deklamation zu romantisch: »Das Charakteristische des deutschen Akzentes ist mir durch die Rhythmik im Dialog nicht prägnant genug gegeben.« Weiterhin stört sie im Besonderen die Liebesszene zwischen Friederich und Verena: »Liebesszenen auf dem Präsentierteller sind für mein Gefühl nie glücklich. Und die Szene mit den Haaren sagt mir nicht zu, (…) es berührt mich nicht unschuldig.« Ihr Sohn nimmt von dieser in einem Brief geübten Kritik so gut wie keine Notiz und streicht lediglich ein Zunge-Herausstrecken von Trutz am Ende des ersten Aktes.

 


Cosimas moralisches Entsetzen

Aus Siegfrieds Lugano-Aufenthalt erhält Cosima eine zusätzliche Ballade, die Trutz im zweiten Akt darbieten soll, mit der Aufschrift »Frisch aus der Werkstatt (…) in Eile (…)«. Der Inhalt der Ballade von »Agilulf und Theudelind« weckt Cosimas moralisches Entsetzen. Denn die Ballade erzählt von dem schlauen Diener Gilbert, der den König Agilulf mit dessen Gemahlin Theudelind betrügt. Der König entdeckt den Verrat, weiß aber nicht, wer der Übeltäter war. Da alle Diener offenbar schlafend in ihren Betten liegen, schneidet Agilulf jenem, dessen Herz am lautesten schlägt, eine Locke ab. Doch Gilbert schneidet anschließend allen schlafenden Kollegen ebenfalls eine Locke vom Haupt – und Agilulf ist der Narr.

Aber diese Ballade bleibt unvertont, nicht weil Cosima sich empört, sondern da Siegfried anstelle der Ballade eine ganze Oper in den zweiten Akt einfügt, »Eukaleia, die geraubte Nymphe, oder die Macht des Gesangs«.

 


Künstlerdrama

Die scheinbare Verworrenheit der Handlung im Kobold – auch Cosima bleibt nach der Lektüre Einiges unklar – entspringt des Absicht des Komponisten, den Zuschauer vom rein passiven Schwelgen in Fantasiewelten zum aktiven, denkenden und musikalische Strukturen erfassenden Mitgestalter zu erziehen. Vier der handelnden Personen, auch der männliche Hauptdarsteller Friedrich, sind »wandernde Sänger und Schauspieler«. Mit dem Künstlerdrama manifestiert sich zugleich die biografische Komponente der Oper. Der Spottvers auf Friedrichs Namen:

    Mein Fritz – Friedel mein!
    Flachsfarbenes Friduleinchen!
    Fridifridifridulein!

erinnert deutlich an Siegfrieds Kinder- und Spitznamen »Fidi«. Die Erfüllung von Friedrichs Liebe würde zugleich die Aufgabe seine Berufes als Schauspieler bedeuten, so wie sein Beruf auch immer das Wecken neuer Liebe mit sich bringt. Überall, wo der blondlockige Liebhaber der Komödiantenbande erscheint, fliegen ihm die Herzen der Frauenwelt zu. Die Kompensation ständiger Sehnsucht und Nichterfüllung ist seine Kunst. Mit der Figur des Trutz wird Friedrich ein bürgerliches Pendant gegenübergestellt. Im Trutz verkörpert sich Siegfried Wagner selbst, der als Opernfigur dem Leben alle guten Seiten abtrotzt. Trutz ist ein selbstzufriedener Schauspieler und die wohl einzige voll-positive Figur in dieser Oper. Einmal im Jahr ist Trutz für acht Tage bei Frau und Kindern, den Rest des Jahres gibt ihm seine matrosenhafte »Komödianten-Ehe« einen moralischen Halt, den Friederich nicht besitzt.

 


Von der Last des Namens

Die Gestalt des Grafen lag Siegfried besonders am Herzen. In den Figuren des »Falschgrafen« und seines Sohnes spiegelt sich Siegfrieds eigenes Verhältnis zum übermächtig erscheinenden Vater Richard Wagner wider. Im Kobold leidet der Sohn unter der ererbten Schuld und unter einer gesellschaftlichen Position, die er ohne Wollen ebenfalls vom Vater geerbt hat. Siegfried Wagner begann seine Ansprache nach der Kobold-Aufführung in der Berliner Gura-Oper mit den Worten, er verdanke neunzig Prozent der großen Gästeschar nur dem Namen, den er trage. In der dramatischen Figur des Grafen behandelt der Komponist die Probleme infolge falscher Freunde und eines Vatererbes, an dem sehr schwer zu tragen ist. Auf Siegfried Wagner angewandt bedeutet dies, dass der Komponist einerseits die Erwartungen der Umwelt erfüllen muss (die Fortführung der Bayreuther Festspiele und die damit verbundenen Verbindlichkeiten), andererseits das Durchkreuzen der vorbestimmten Wege als produktiver Künstler.

Die Kobolde dienen ebenfalls als Metaphern für ein solches Schicksal. Diese Spukgestalten, unerlöste Seelen ermordeter Säuglinge, die helfen, aber auch Schaden anrichten können, hat Siegfried den Sagen der Gebrüder Grimm entnommen und – jenseits der Mythologie – als Traumgestalten unbewältigter Psyche ausgelotet.

 


In Italien vollendet

Im April 1903 beendet Siegfried in Rom den zweiten Akt der Kobold-Partitur, den dritten einen knappen Monat später, im Mai 1903 in Florenz. Die Vollendung der Partitur kündigt er seiner (Halb-)Schwester Daniela mit folgenden Worten an: »Kobold fertig. Nimm nur ordentlich Taschentücher in die erste Aufführung«. Bereits im Januar 1903 war er von Richard Strauss aufgefordert worden, bei der vom Allgemeinen Deutschen Musikverein getragenen Tonkünstlerversammlung im Juni des Jahres 1903 einen Ausschnitt aus seinem neuen Werk zur Aufführung zu bringen. Doch Siegfried Wagner antwortete trotzig: »Bruchstücke aus meiner neuen Oper möchte ich mir selber nicht raten. Es ist noch Zeit genug, sein Kind von den Wölfen zerreißen zu lassen. – Wenn ihr aus meinem so gut wie unbekannten Wildfang etwas machen wollt, ist mir's recht. Wenn nicht, auch!«. Ende des Jahres 1903 reist der Komponist nach einem Konzert in Antwerpen zu den Schlussproben nach der Kobold-Uraufführung nach Hamburg.

 


Umstrittene Uraufführung

Etwas provinziell fällt die Inszenierung von Felix Ehrl aus, der sich gleichwohl bemühte, Siegfried Wagners ausführliches Regiebuch zu berücksichtigen. Ehrl verwendete einige Dekorationen aus dem Fundus. Möglicherweise wollte er dem Komponisten im Sinne der Bayreuther Gemeinde etwas Gutes zu tun, indem er den alten Ekhart wie Gurnemanz in »Parsifal« kostümierte. Die realistischen Bühnenbilder standen im Gegensatz zum impressionistischen Gehalt des Werkes. Der Berliner »Tag« berichtete: »Die Aufführung war vielleicht mit Eifer vorbereitet, kam aber über eine knappe Mittelmäßigkeit nicht hinaus.« Und in der Wiener »Zeit« war zu lesen: »In dem Ruhm die unverständlichste aller Opern zu sein, sonnte sich der Troubadour ungestört durch Rivalen bis zum Tage, an dem Siegfried Wagner seinen Kobold in die Welt setzte.« 

Ähnlich wie im »Troubadour« werden im Kobold Fragezeichen gesetzt, die sich erst im späteren Verlauf der Oper klären. Es werden Stimmungen angerissen, die im Rezipienten ergänzenden Widerhall finden, die das optische Bild bereichern und ergänzen sollen. Bei der zweiten Aufführung, die Siegfried Wagner selbst dirigierte, gelangen nicht nur einige Beleuchtungseffekte besser, die Aufführung war auch eine viertel Stunde kürzer. So berichtete die Wiener »Zeit«: »Was den Operndirigenten macht, das Gefühl für die Szene, das stete Anschmiegen des Orchesterausdrucks an den dramatischen Akzent, die Übereinstimmung zwischen Bühne und Orchester, dieses einzig Entscheidende besitzt Siegfried Wagner und prägt seiner Dirigierkunst den Charakter auf.«

 


Großer Bühnenerfolg

Der Publikumserfolg der zweiten Aufführung war überwältigend. Richard Strauss forderte daher den Komponisten auf, im Juni des Jahres 1904 Bruchstücke aus dem Kobold und ein größeres Orchesterstück bei der Tonkünstlerversammlung in Frankfurt zu dirigieren. In derselben Spielzeit (1903/04) folgten weitere Kobold- Inszenierungen am Stadttheater Breslau, am Eberfelder und am Neuen Kölner Stadttheater. Für die folgende Spielzeit kündigten die Bühnen in Prag, Wien, Graz und Karlsruhe Inszenierungen des Kobold an, und aus Buenos Aires traf eine Anfrage ein, man wolle den Kobold dort in italienischer Sprache aufführen. Daher bat Siegfried Wagner seine Halbschwester Daniela, das Libretto ins Französische zu übersetzen. 

Die Premiere im Kölner Stadttheater am 11. April 1905 dirigierte der Komponist selbst. Seinen Konzertprogrammen fügte er in diesen Jahren stets auch mindestens einen Ausschnitt aus dem Kobold bei, häufig die getragene Einleitung zum dritten Akt, die – als sinfonische Dichtung – Verenas Leid zeichnet, so auch bei seinem Konzert mit dem Berliner Philharmonischen Orchester im März 1905, das als Hauptprogramm Beethovens Siebte beinhaltete und zu einem außergewöhnlichen Publikumserfolg führte.

 


Peter P. Pachl


Quelle: Programmheft zur Aufführung der kobold am Stadttheater Fürth 2005 (mit freundlicher Genehmigung des Autors)
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