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O Haupt voll Blut und Wunden

Internationale Siegfried Wagner Gesellschaft e.V., Bayreuth

 

Schlüsselerlebnis in Asien

In Santa Margherita … vollendet Siegfried am 10. April 1910 die Partitur seines Opus 7, den dritten Akt der Oper Schwarzschwanenreich. In diesem Werk kommt der bereits auf der Asienreise entstandene Plan zu einem Drama über die Kindsmörderin zum Tragen, jener scheue Blick der schönen Mörderin, aus dem Siegfried gedeutet hatte, sie wollte wissen, ob auch er sie für schuldig halte …

 

Singapur, Sonntag, 3. April

Als wir nachmittags einen kleinen Gang machten, da hörten wir plötzlich, mitten im Gewirr der schreienden Verkäufer, der rollenden Wagen, pfeifenden Schiffe aus einem großen öffentlichen Gebäude einen Chor aus der Johannespassion! Wie Eis rann es mir durch die Glieder, wir standen wie gebannt und trauten unsern Sinnen nicht; doch es war richtig, denn als wir näher gingen, merkten wir, dass da oben für Ostern oder vielmehr Karfreitag eine Probe abgehalten wurde … Der Eindruck war auf uns beide so überwältigend, die Urklänge der Religion, der felsenfeste bewußte Glaube Bachs drangen so unmittelbar, so beseligend und alles andre verschwinden lassend in uns, dass wir uns gestehen mussten, nie von diesem Genie einen gleich gewaltigen Eindruck gehabt zu haben. So feierten wir die heilige Woche! Mitten in dem buntesten tropischen Treiben dringen bis zu uns diese wundervollen Klänge. Konnte uns etwas Schöneres zuteil werden?

Kanton, Dienstag, 19. April

An sehr rhythmisch hackenden Fleischern vorbei, die, wie alle in Kanton, ihr ganzes Werk vorn an der Straße verrichten, führte mich Wong Jew, unser Chinese, zu den Gefängnissen, die gerade nicht dazu geeignet waren, meine Stimmung sehr zu erheitern; ja, ich kann sagen, der Eindruck des dort Geschauten und Vernommenen hat mir lange trüb nachgehängt, und das Bild jener Frau, von der ich erzählen will, wird mir wohl nie entschwinden … – Nachdem ich zuerst zu den leichten Sträflingen geführt worden, brachte mich mein Führer zu den Verbrechern, welche den hölzernen Kragen tragen müssen … Etwas schwerere Verbrechen als die ihrigen werden mit so entsetzlich schweren Kragen dieser Art bestraft, dass die unglücklichen Träger unter der Last gleich zu Boden stürzen und nach kurzer Zeit sterben. Ich sah solche Krägen im Hofe liegen und konnte sie kaum aufheben.

Die schlimmsten Verbrecher, welche im entferntesten Teile der Gebäude liegen, durfte ich nicht sehen; dagegen wurden mir die Frauen gezeigt, welche als Mörderinnen angeklagt waren. Nach langen öden Gängen gelangten wir zuerst an ein rundes Loch in de Wand, durch das die Gefangenen von einem Kanale aus hereingesteckt werden; im Augenlicke, wo sie durchgetrieben werden, stechen von oben spitze Messer herunter, die das Fleisch der Armen blutig zerreißen … Das Furchtbare an der Sache hier war, dass diese Greuel immer noch geschehen – ja, dass am Nachmittage dieses selben Tages eine so greuliche Hinmetzelung stattfinden sollte und dass der Führer mich aufforderte, dahin zu gehen.

Wir traten nun bei den Frauen ein, und ich werde wohl nie dieses Erlebnis vergessen: in einem kleinen Raum … saß auf einem niedrigen Schemel an der Rückwand eine bleiche schöne junge Frau, ja, schön, wie ich kaum eine zuvor hier in China sah; sie erinnerte mich an jene alten Madonnen des Fra Angelico, des Giotto, wie sie so dasaß an dem Tische, umgeben von sechs anderen Frauen, die, wie ich erfuhr, Kindsmörderinnen waren. Sie hielt in den feinen schmalen Händen die Dominos, um sie zum Spiele zu verteilen. Der Blick war gesenkt, als wir zuerst eintraten, doch sie hob ihn, und er ruhte scheu und fragend auf mir, als wollte sie wissen, ob ich aus dem ihrigen ihre Schuld lesen könnte …

Als wir wieder in das Zimmer zurückkehrten, saß sie noch an derselben Stelle; sie sah uns kaum an, sprach mit den andern Weibern, und ich beobachtete an ihrem Munde einen Zug, der mich erschrecken musste: es drückte sich da eine Kälte, eine Herzlosigkeit aus, die mich wohl davon überzeugen mussten, dass sie schuldig war, dass vielleicht nicht einmal ein leidenschaftlich wütender Moment sie getrieben hat, ihren Gatten zu töten, sondern dass ein perverses Motiv dieser Handlung zugrunde lag. Und trotzdem wollte es mir kaum möglich erscheinen, und ich musste staunend wieder diese feinen Züge betrachten, die zarten, gespitzten Lippen, die großen Rehaugen, den schönen Teint, der in seiner Blässe die einzelnen Glieder nur noch an Feinheit erhöhte. Mein Führer sagte mir, dass sie keine Ahnung habe, was ihr bevorstehe. Ihre Schuld musste so schwer sein, dass sie nicht einmal mit einfachem Tode bestraft werden soll: ihr droht das Furchtbarste im kommenden Monat – sie wird in dreißig Stücke zerhackt. Nach dem siebten Schnitt sterben gewöhnlich die unseligen Opfer.

(aus dem Reisetagebuch, 1892) 

 

Die Greueljustiz in Kanton, an der Schwelle des 20. Jahrhunderts, vermag Siegfried nicht zu vergessen – und zieht dramatisch die Parallele zu den Greueltaten des Hexenwahns im Europa des 17. Jahrhunderts. Das Bild der Kindsmörderin im Kerker zitiert direkt die Situation in Kanton: »Hulda ist gegen eine Mauerpforte gelehnt, die Stirn auf den rechten Unterarrn gestützt.« Die schwarzen Dominosteine in den Händen des schönen Vorbilds werden zu den düsteren Steinen des Kerkers, in die Hulda ihre Nägel gräbt, aber auch zum Kruzifix, das sie bald darauf in Händen hält. Die hölzernen Kragen […] werden zur »schweren eisernen Flasche«, »die der Verurteilten um den Hals gehängt werden soll«, und auf dem Gang zum Richtplatz blickt Hulda ihrem Mann »fragend lang ins Auge«: die von Siegfried Wagner in Kanton nur erspürte Frage spricht sie aus: »Schuldig bin ich! Glaubst du, dass ich es nicht sei, so bin ich frei von Fehl!« Greueljustiz auch für dieses schuldig-schuldlose Opfer: in den Flammen des Scheiterhaufens stirbt die rechtmäßig verurteilte Hexe.

Die leichtfertige Bezeichnung »Hexe« finden wir im Reisetagebuch zur Charakterisierung der häßlichen Mörderinnen. dass Siegfried Wagner die »Hexe« jung und schön wählt, zeugt von seiner genauen Kenntnis der Femegerichte und Hexenprozesse: natürlich waren die jungen Frauen den geistlichen und weltlichen Juroren – als Objekt für die Untersuchung nach einem Hexenmal und für die anschließenden sexualsadistischen Folterungen inklusive Vergewaltigung – willkommener als die schnell abgeurteilten alten. Bachs Choral »O Haupt voll Blut und Wunden«, der genau vierzehn Tage vor der Begegnung mit der Mörderin im Gefängnis von Kanton »so beseligend und alles andre verschwinden lassend« Siegfrieds Entschluß, Komponist zu werden, ausgelöst hatte, wird in der Kerkerszene von Opus 7 zitiert. Er ist das einzige Fremdzitat, das sich der Komponist in vier seiner Werke, im Kobold, im Schwarzschwanenreich, im Friedensengel und nochmals in der Heiligen Linde gestattet …

Siegfried Wagners Schwarzschwanenreich spielt in einer Zeit, wo Mythen und Sagen im Bewußtsein der Bevölkerung noch so lebendig waren, dass eine klare Grenze zwischen Realität und Fiktion oft nicht zu bestimmen ist. Anders wären die Massaker der Hexenverfolgungen in ihrem Ausmaß gar nicht möglich gewesen. Gestützt auf die pseudowissenschaftlichen Ausführungen der dominikanischen Inquisitoren Heinrich Institoris und Jacob Sprenger war die Ausrottung der Hexen dogmatisches Gebot. Bis heute hat die katholische Kirche den »Malleus maleficarum«, den 1487 erstmals erschienenen Hexenhammer, nicht widerrufen, sich nicht von jenen Ausschreitungen distanziert, die an die neun Millionen unschuldiger Menschen hinwegraffte. So verwundert es auch nicht, dass die Praktiken der einstigen Inquisitoren, nachdem diese von Kirche und Staat eingestellt wurden, vom Volk teilweise beibehalten, und noch im 19. Jahrhundert in Deutschland und insbesondere in Lateinamerika Frauen als angebliche Hexen gelyncht wurden.

Ihren Höhepunkt erreichte die Hexenjagd jedoch im Dreißigjährigen Krieg. Nicht nur Hunger und Elend, nicht nur die Angst, von der Gesellschaft ausgestoßen zu werden, trieb ledige Mütter dazu, ihre Neugeborenen zu töten, sondern die berechtigte Furcht vor der Diskriminierung als Hexe …

Die in diesen Zeiten überhandnehmende Krankheit der Hysterie führte zahlreiche Frauen dazu, sich selbst nächtlicher Erlebnisse mit Incubi – eindringenden Geistern in männlicher Gestalt – zu zeihen, und sogar Scheinschwangerschaften nahmen zu. Keiner war vor der Anklage sicher, und wer einmal angeklagt war, der wurde auch verurteilt, weil er spätestens unter Folterqualen gestand, was man von ihm hören wollte. Da die Kirche und selbst felsenfester Glaube keinen Schutz vor der Inquisition boten, suchten manche ihr Heil in den vom Christentum verdrängten Naturreligionen. Durch die Christianisierung waren alle früher gepflegten Religionen dämonisiert worden: die alten Göttinnen und ihre Priesterinnen wurden als böse Geister und Hexen verteufelt und die ehemaligen Götter zu Kumpanen des Satans. Geistige Zufluchtsorte wurden als real geglaubte künstliche Paradiese verehrt, und so konnte die Hölle ebenso zum idealen Topos werden wie der Himmel.

Ein solcher Zufluchtsort ist das Schwarzschwanenreich …


Peter P. Pachl


Quelle: Programmheft Festspiele Rudolstadt 1994 (mit freundlicher Genehmigung des Autors)
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