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Auf der Suche nach einem verlorenen Programm

Internationale Siegfried Wagner Gesellschaft e.V., Bayreuth

 

Siegfried Wagners Symphonie in C

Neben dem Opernschaffen Siegfried Wagners, das achtzehn musikdramatische Werke umfasst, ist das sinfonische Schaffen sehr gering an Zahl: Nach dem durchaus programmatisch zu verstehenden sinfonischen Jugendwerk Sehnsucht machte sich Siegfried Wagner erst nach der Vollendung seiner neunten Oper daran, sinfonische Werke für den Konzertsaal zu schreiben. Als deren letztes entstand 1925 parallel zur Komposition seiner Oper Wahnopfer die Symphonie, deren 2. Satz im Jahre 1927 neu komponiert wurde.

Einer der Impulse zu dieser Form, die doch den Prinzipien der in Bayreuth hochgehaltenen Neudeutschen Schule zuwiderläuft, mag darin liegen, dass der Komponist mit einem umfangreichen sinfonischen Werk in seinen Konzerten wenigstens ein komplettes Opus von sich, nicht nur Opernfragmente oder die – in ihrer Bedeutung dem musikdramatischen Schaffen untergeordneten – sinfonischen Kleinformen vorstellen wollte. Vielleicht mag auch die Unzufriedenheit über zu wenige und insbesondere zu wenig qualitätvolle Aufführungen seiner Opern in diesen Jahren mitgespielt haben, verbunden mit der Tatsache, dass ihm die Gelder fehlten, um die kompletten Opernmateriale von Opus 14 und 15 zu drucken.

Im Juni 1923 heisst es in einem Brief Siegfried Wagners an Rosa Eidam: »Ich habe x Sachen fertig im Schubfach, kann sie nicht drucken lassen, wie ein Maler, der keine Farben mehr haben kann! Und doch schafft man weiter und freut sich, wenn alle Monat einmal die Sonne scheint.« Und 1925 liest man in einer Mitteilung des Komponisten an Otto Daube: »In der Not frißt der Teufel Fliegen, und ich komponiere eine Symphonie. Aber man will doch mit dem Publikum in Fühlung bleiben; die großen Theater verschließen sich weiter, bis meine Todesanzeige im Berliner Tagblatt steht. (…) Es reizte mich, in einer anderen Form mal was zu schaffen.«

Obgleich Siegfried Wagner eine Uraufführung seiner Symphonie für Hamburg ins Auge gefasst hatte, blieb das Werk bis zu seinem Tod, dreieinhalb Jahre nach Fertigstellung der Komposition, ungedruckt. Offenbar wurde nach dem Tod des Komponisten ein handschriftliches Aufführungsmaterial hergestellt.

Am 11. Todestag Siegfried Wagners, dem 4. August 1941, erfolgte im Festspielhaus Bayreuth – im Rahmen eines Siegfried-Wagner-Gedenkkonzertes – die Uraufführung. Heinz Tietjen leitete das Festspielorchester. Nach dieser mehr internen Uraufführung erfolgte die erste öffentliche Aufführung im November desselben Jahres unter der Leitung von Karl Elmendorff in der musikalischen Akademie der Stadt Mannheim.

Anschließend interpretierte Leopold Reichwein das Werk mit den Wiener Philharmonikern, und am 15. Januar 1942 stand Siegfried Wagners Symphonie auf dem Programm der Sächsischen Staatskapelle Dresden. Bei dem von Kurt Striegler geleiteten Konzert wurde – wie schon bei der Uraufführung in Bayreuth unter Tietien – quasi beide Fassungen des Werkes parallel angeboten, da neben der Symphonie auch das Vorspiel zum Friedensengel mit auf dem Programm stand.

Nach dem zweiten Weltkrieg wurde von Otmar Suitner im Hinblick auf eine in Ostdeutschland geplante Schallplattenproduktion das Material entliehen und ist seither verschollen. Nach der handschriftlichen Originalpartitur, die durch farbige Einzeichnungen eines Dirigenten (Tietjen?) schlecht lesbar ist, wurden nunmehr vom Verlag Max Brockhaus, Bonn-Bad Godesberg, das Orchestermaterial und eine Dirigierpartitur neu hergestellt, welche letztere auch im Handel erhältlich ist.

Siegfried Wagners erste symphonische Dichtung Sehnsucht traf anlässlich der vom Komponisten im Juni 1896 dirigierten Uraufführung in London das Verdikt Hans Richters, das Werk sei »zu lisztisch«.

Richters Urteil – er hätte wohl lieber ein wagnerianisches Werk gehört – ist richtig. Um neben dem gigantischen Werkbereich seines Vaters als Komponist bestehen zu können und nicht in hoffnungsloses Epigonentum zu verfallen, orientierte sich Siegfried Wagner als Musikdramatiker an Vorläufern (Marschner, Weber) und Antipoden seines Vaters (Bizet, Mussorgski, Rossini und besonders Verdi), als Symphoniker an Hector Berlioz und Franz Liszt.

Den Wagnerianern war zu dieser Zeit die Komposition einer Symphonie – trotz einiger Anhängerschaft zu Anton Bruckner – so suspekt, dass Siegfried Wagners Entschluss, in dieser Form zu arbeiten, nahezu einer Konfrontation mit den Vertretern der Wahnfried-Doktrin gleichkam, was politisch mit Siegfrieds Entschluss, sich offen als Liberaler zu bekennen und gegen den aufblühenden Nationalsozialimus Stellung zu beziehen, harmoniert.

Immerhin war allein die Tatsache, dass Siegfried Wagner (wie Brahms!) eine Symphonie komponiert hat, der Wahnfried-Archivarin Gertrud Strobel noch Anfang der Siebzigerjahre so peinlich, dass sie immer wieder beteuerte, Siegfried habe zwar eine Symphonie komponiert, aber nur zur Übung und nicht für die Öffentlichkeit. Damit gedachte die linientreue Archivarin auch die Tatsache zu nivellieren, dass diese Komposition tatsächlich mehrfach zur Aufführung gekommen ist und – dafür spricht nicht nur der zitierte Brief – wäre es nach Siegfried Wagners Willen gegangen, durchaus früher als nach seinem Tod.

Den ersten Satz der Symphonie, ein Moderato (»mäßig bewegt«) konzipierte Siegfried Wagner im April 1925, für den zweiten Satz wählte er das Vorspiel zu seinem Opus 10, Der Friedensengel. Den dritten Satz, ein Allegro, und den Mosso-Schlusssatz schrieb er im Anschluss an den ersten Satz nieder und berechnete sogleich auch die Aufführungsdauer der Sätze eins (8 Minuten) und vier (10 Minuten). Nach den Festspielen des Sommers 1925 instrumentierte er die Kompositonsskizzen: der erste Satz wurde am 27. August, der dritte am 26. September und der vierte Satz am 6. Oktober 1925 in Partitur vollendet.

Ihre endgültige Fassung sollte die Symphonie jedoch erst zwei Jahre später, mit der Komposition eines eigenen zweiten Satzes erhalten. Den Grund hierfür könnte man darin sehen, dass Der Friedensengel inzwischen als Oper in Karlsruhe zur Uraufführung gekommen war, was keine hinreichende Erklärung bietet. Vielmehr liegt die Entscheidung zur Neukomposition in verlegerischen Fragen begründet, da dieses Werk ursprünglich bei Hanfstengl verlegt werden sollte, während Der Friedensengel bei Carl Gießel erschienen war. Dass die Symphonie nicht auch bei Gießel erscheinen konnte, lag wiederum an privaten Missstimmigkeiten zwischen Siegfried Wagners Gattin Winifred und dem zum intimen Freundeskreis des Komponisten zählenden Bayreuther Verleger.

Die Kompositionsskizze des zweiten Satzes trägt das Datum 7. Februar 1927, die Partitur-Niederschrift wurde elf Tage später, am 18. Februar 1927, abgeschlossen.

Franz Liszts Kompositionen bildeten einen festen Bestandteil seines Konzertrepertoires im Rahmen der von ihm selbst ironisch als »Familienprogramm« bezeichneten Programmzusammenstellung aus Werken seines Vaters und Großvaters, sowie seinen eigenen Schöpfungen. Über Franz Liszts Kompositionen heisst es in Siegfrieds Wagners »Erinnerungen«: »Die thematische Kraft dieser Werke lasst sich eben nicht unterdrücken. Und auf diese Gestaltungskraft kommt es nun doch einmal in erster Linie an. Mit Kontrapunktik und Instrumentationskünsten allein schafft man nicht Werke von bleibendem Werte. Man muss aber auch Liszt zu dirigieren verstehen. Ein Nurmusiker wird kein Verhältnis zu diesen Werken haben. Man muss dichterisch mitempfinden.« Die dichterische Mitempfindung verlangt Siegfried Wagner auch vom Rezipienten seiner Werke, und umgekehrt ist die dichterische Idee für den Komponisten formbildend.

Schon Paul Pretzsch hat in seiner Analyse der Opern Opus I bis Il, »Die Kunst Siegfried Wagners«, darauf hingewiesen, dass es sich bei Siegfried Wagners Vorspielen zu seinen Opern grundsätzlich um symphonische Dichtungen handelt, die jedoch auch nach rein musikalischen Gesetzmäßigkeiten (Sonatensatz-, Rondo- oder Bogenform) zu erklären sind. So verhält es sich auch mit Siegfried Wagners Symphonie. Obgleich es ihn »reizte«, etwas »in einer anderen Form« zu schaffen, so trieb ihn doch auch hier eine dichterische Grundidee.

Da es zeitlebens des Komponisten zu keiner Uraufführung der Symphonie kam, gibt es zwar keine diesbezüglichen programmatischen Hilfen für das Publikum, und ein Programm-Konzept, wie es für einige seiner symphonischen Werke vorliegt, hat sich ebenfalls nicht erhalten. Auf der Suche nach dem verlorenen Programm können also nur Näherungswerte erzielt werden.

Im bislang ungesichteten Material des kompositorischen Nachlasses des Komponisten entdeckte ich jedoch im Winter 1983 das komplette Particell zu einem Scherzo Hans im Glück. Diese Komposition aus dem Jahr 1924 fand Eingang in die Symphonie; dem traurigen Vorspiel zur Oper Der Friedensengel (1914), als zweitem Satz, sollte als dritter Satz Hans im Glück folgen. Unbenannt in ihrem dichterischen Gehalt sind somit die Ecksätze der Urfassung von Siegfried Wagners Symphonie.

 

1. Satz: Mit einer achtunddreissigtaktigen Einleitung in a-moll beginnt der erste Satz. Das erste Thema setzt in e-moll ein und wird dann nach g-moll transponiert. Vierunddreissig Takte leiten über zum zweiten Thema in G-dur. Die beiden Themen werden durchgeführt, in der Reprise erscheint das erste Thema in cis-moll und D-dur, das zweite in C-dur, der Grundtonart der Symphonie, in der auch die Coda steht.

2. Satz: Anstelle des ursprünglichen hierfür vorgesehenen Friedensengel-Vorspiels in a-moll mit dem Halbschluss in C-dur steht der zweite Satz in der Fassung aus dem Jahr 1927 in G-dur. Wir haben es hier mit einer Rondoform A-B-A-C-B-A zu tun.

3. Satz: Der dritte Satz ist das Scherzo Hans im Glück aus dem Jahr 1924. Die Rondoform folgt der Märchenvorlage.

4. Satz: Wie der erste Satz, so ist auch der vierte in einer Bogenform gebaut, wie sie uns in Chopins Mazurken und in Schumanns Charakterstücken begegnet. Die vierzehntaktige Einleitung in c-moll greift das erste Thema des ersten Satzes noch einmal auf. Auch das erste Thema dieses Satzes steht in der parallelen Molltonart der Grundtonort C-dur. Nach einer Überleitung wird ein drittes Thema in c-moll eingeführt, nach einer weiteren Überleitung erklingt das Einleitungsthema, nunmehr mit einem neuen Motiv verknüpft, in g-moll. Anschliessend werden zwei neue Themen mit dem zweiten Thema durchgeführt. Die Reprise bringt das Einleitungsthema wieder in c-moll. Ubermütig tönt ein neues Thema in C-dur, und sequenzhaft erklingt jenes Thema, das in der Durchführung neu hinzugekommen ist.



Aus dem ursprünglichen zweiten Satz wird sodann das Thema der Friedensbotschaft wieder aufgenommen, bevor die Coda Durchführungs-, Einleitungs- und C-dur-Thema noch einmal aufgreift. »Friede, Freiheit Glück!«, von Mita im großen Gesang des zweiten Aktes Der Friedensengel in einem Atemzug genannt, scheinen auch die Grundpfeiler des verlorenen Programms zu dieser Symphonie zu bilden.


Peter P. Pachl


Quelle: Programmheft zum Sonderprojekt des Radio-Symphonie-Orchesters, Berlin 26. und 27. April 1986 (mit freundlicher Genehmigung des Autors)

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