| Ein historischer Rückblick Nach dem geltenden deutschen Recht ist der Selbstmord und sein Versuch straffrei. Dieser Grundsatz ist jedoch so selbstverständlich nicht. Ein kurzer rechtsgeschichtlicher Rückblick zeigt vielmehr eine wechselvolle, von politischen und geistigen Einflüssen in hohem Maße abhängige Entwicklung. Während das altorientalische Recht, niedergeschrieben im Codex Hammurabis, der altindischen Mitaksara oder im mosaischen Gesetz keine Bestimmungen über die Selbsttötung enthält, verwarfen die griechischen Philosophen des frühen Altertums den Selbstmord als Verbrechen. Die prominentesten Vertreter dieser Auffassung waren Sokrates, Aristoteles und Platon. Letzterer schlug hereits in seiner Abhandlung Über die Gesetze vor, dem Selbstmörder die hergebrachten Begräbnisehren zu verweigern, ein Gedanke, der in späteren Zeiten als die klassische Strafe für Selbstmörder praktiziert worden ist. Unter dem Einfluss der stoischen Philosophie veränderte sich die Einstellung zum Selbstmord grundlegend. Nach dieser Lehre zeigte sich die vollkommene Freiheit des Menschen auch in dem freiwilligen Scheiden aus dem Leben. Seneca, der – obwohl Römer – dem Stoizismus theoretisch stärker verbunden war als die meisten griechischen Anhänger dieser Lehre, schrieb in seinem bekannten 70. Brief: non vivere bonum est sed bene vivere … Er gab damit einem für diese Zeit allgemein gültigen Gedanken Ausdruck, dem auch die römische Gesetzgebung Rechnung trug, indem sie den Selbstmord grundsätzlich nicht bestrafte. Die Germanen stellten den Selbstmord ebenfalls zunächst nicht unter Strafe. Nach altem deutschen Recht war der freie Mann unbeschränkter Herr über sein Leben und Gut, seine Selbsttötung war demzufolge weder sitten- noch rechtswidrig. Der Gautreksaga ist sogar zu entnehmen, dass sich die lebensmüden Bewohner an der Grenze Westgotlandes von einem eigens hierfür bestimmten hohen Felsen herabzustürzen pflegten. Erst das Christentum brachte wiederum eine entscheidende Änderung in der Auffassung über die moralische und rechtliche Qualifikation des Selbstmordes mit sich. Im Neuen Testament wird der Selbstmord zwar nicht ausdrücklich erwähnt und nirgends expressis verbis verboten, aber schon früh erklärten sich mehrere Kirchenväter eindeutig gegen den Selbstmord. Eusebius, Chrysostomus und Hieronymus nennen ihn eine grundsätzlich unsittliche und unchristliche Handlung. Sein erbittertster Gegner aber war Augustinus, der die Ansicht vertrat, wer sich selbst töte, töte auf jeden Fall einen Menschen und verstoße damit gegen das fünfte Gebot. Die Bestrebungen, den Selbstmord, der den Grundsätzen christlicher Moral widerspricht, mit Kirchenstrafen zu belegen, hatten schließlich auf den verschiedenen, mit diesem Problem befassten Kirchenversammlungen Erfolg. Auf dem Konzil von Arles (452) wurde der Selbstmord wohl erstmals offiziell zum Verbrechen erklärt und bei der Synode von Braga (563) wurde über den Selbstmörder die Exkommunikation verhängt und ihm das kirchliche Begräbnis versagt. Diese Grundsätze gingen schließIich in das Corpus Juris Canonici, das kirchliche Strafrecht, über. Dieses kanonische Recht galt zwar nur im Verhältnis von Kirche zu Gläubigem. Es war jedoch wegen der zentralen und machtvollen Stellung der Kirche auch für das weltliche Recht vorbildlich und hat dieses maßgeblich beeinflusst. Auch die weltliche Gesetzgebung Deutschlands ist seit dem 13. Jahrhundert von diesen Einflüssen gekennzeichnet. Im Sachsenspiegel finden sich zwei Bestimmungen, die auf den Selbstmord Bezug nehmen. Es wird dort im Landrecht 11, Art. 31 § 1 eine Regelung über die Konfiskation der Erbschaft des Selbstmörders getroffen und im Landrecht IV, Art. 14 §§ 2, 3 angeordnet, dass ein Selbstmörder unter bestimmten Voraussetzungen an einer Wegescheide zu verscharren sei. Im Gegensatz zu den gleichzeitig oder später in verschiedenen Stadtrechten niedergelegten Bestimmungen, die regelmäßig entehrende nachträgliche Execution am Leichnam vorsahen, versuchte die erste rechtsgesetzliche Regelung, die Constitutio Carolina Criminalis von 1532, die Bestrafung des vollendeten Selbstmordes in Art. 135 zu begrenzen. Eine praktische Auswirkung hat diese Bestimmung jedoch nie gehabt, da die fiskalischen Interessen und der Einfluss der Kirche auf die Landesherren überwogen. Die Überzeugung von der Strafwürdigkeit des Selbstmörders gewann somit immer mehr an Boden und fand schließlich im Laufe der nächsten Jahrhunderte in vielen Partikulargesetzgebungen ihren Niederschlag. Ausführlich ist die Materie einschließlich des Selbstmordversuches im verbesserten Landrecht des Königreiches Preußen vom Jahre 1721 geordnet. Es spricht viel dafür; so heißt es dort, den Selbstmordversuch mit dem Tode zu bestrafen, gleichwohl solle nur eine leichtere Strafe verhängt werden. Auch der arn Ende der Epoche des gemeinen Rechts erlassene Codex Iuris Bavarici Criminalis von 1751 kennt noch die Bestrafung des Selbstmordes. Zum Verbrechen gestempelt, wurde der vollendete Selbstmord zumeist mit Güterkonfiskation und Verscharren des Leichnams unter dem Galgen durch den Scharfrichter (sog. Eselsbegräbnis) geahndet. Die Bestrafung des Selbstmordversuches war nach diesem Gesetz offenbar nicht vorgesehen, gleichwohl wurde in der Praxis sehr häufig mit Freiheitsentzug oder Landesverweisung reagiert. Die disqualifizierende Beurteilung des Selbstmordes war aber nicht nur auf religiöse Motive zurückzuführen. Auch Philosophen und Rechtslehrer, allen voran die deutschen Kriminologen Pufendorf, Thomasius und Wolff, forderten bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts nahezu einstimmig eine Verurteilung der eigenen Tötung als unsittliche, rechtswidrige und staatsschädliche Handlung. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts allerdings machte sich als Folgeerscheinung der französischen Aufklärung, vorbereitet aber insbesondere schon durch Shaftesbury und Hume, und dank des Einflusses, den vor allem Männer wie Montesquieu, Beccaria, Voltaire, Rousseau und Feuerbach auf die deutschen Gesetzgeber auszuüben begannen, wieder ein Umschwung zum Positiven bemerkbar. Man begann jetzt überall einzusehen, dass man zwischen einer Handlung, die ein Verbrechen war, und einer solchen, die lediglich moralisch nicht vertretbar erschien, einen Unterschied machen müsse. Folgerichtig schloss man den Selbstmord aus dem Kreise der Verbrechen aus und betrachtete ihn als rechtlich indifferenten Vorgang. Diese Einsicht schlug sich auch bald in der Gesetzgebung nieder. Den Anfang machte das Land Preußen, in dem im Jahr 1796 durch das Rescript Friedrich Wilhelm II. von Preußen die Bestrafung des Selbstmordes und seines Versuches allgemein und endgültig aufgehoben wurde, nachdem bereits durch das Rescript Friedrich des Großen vom 6. 12. 1751 die Strafe für den vollendeten Selbstmord wegen Nutzlosigkeit der Bestrafung ausgesetzt worden war. Auch Bayern hat in sein neues allgemeines Strafgesetzbuch im Jahr 1813 keine Strafbestimmung mehr aufgenommen, die sich mit Selbstmord oder Selbstmordversuch befasste. Seit dieser Zeit ist – mit Ausnahme des Art. 158 des Strafgesetzbuches von Sachsen aus dem Jahr 1868, der jedoch kurze Zeit später eliminiert wurde – in Deutschland der Selbstmord oder sein Versuch nach weltlichem Recht straffrei. Wer heute bei einem Selbstmordversuch von einem für die öffentliche Sicherheit und Ordnung verantwortlichen Organ angetroffen wird, der wird in Anwendung der Verwahrungsgesetze der einzelnen Bundesländer der BRD zum Schutze vor sich selbst in eine Nervenheilanstalt eingeliefert. Sein weiteres Schicksal hängt vom Urteil der Ärzte ab. Das geltende kanonische Recht bestraft den Selbstmord weiterhin gemäß c. 2350 § 2 i. V. m. c. 1240 § 1 Nr. 3 mit dem Entzug des kirchlichen Begräbnisses. Voraussetzung ist allerdings, dass die Tat mit freier Überlegung und klarem Bewussein ausgeführt wurde und der Tod infolge der Tat eingetreten ist. Der auf freier Entscheidung beruhende nicht vollendete Selbstmord wird mit dem Ausschluss von kirchlichen Ehrenämtern geahndet. Manfred Hohmann
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