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Liebe — Tragik

Internationale Siegfried Wagner Gesellschaft e.V., Bayreuth

 

Emanzipation und Gesellschaft

Obwohl ziemlich genau lokalisiert und sogar historisch belegt, erscheint die Handlung von Siegfried Wagners neunter Oper nach Zeit und Raum zunächst seltsam entrückt. Wie stets in seinen Werken, sind Namen und Begriffe auch hier gewöhnungsbedürftig und erschweren den Zugang zum eigentlichen Kern noch mehr als das Sujet selbst, es sei denn, man hält sich nicht lange mit Einzelheiten auf und fasst den Inhalt einfach folgendermaßen zusammen: »Radomar, der vom Volk erwählte, aber im tiefsten Inneren schon dem Christentum zugewandte Heidenkönig, wird durch den Opfertod seines Weibes Ellida aus unlösbaren Gewissenswirren erlöst. Ein Mönch, Sinnbild des neu erstandenen Christenglaubens, verkündet ihm angesichts der heiligen Leiche: ‚Sieh, eine Sünderin hat dich gerettet! Jesus, der Milde, nimmt sie zu sich. Bete für sie!« (Zdenko von Kraft, Der Sohn – Siegfried Wagners Leben und Umwelt, Stuttgart 1969; 178)

Der Plot ist zum Glück in Wirklichkeit viel besser und dabei spannend und lehrreich zugleich. Man erfährt etwas von eigentümlichen Sitten und Gebräuchen, über die wir vielleicht schmunzeln möchten, die uns jedoch heute, da wir aus Film und Fernsehen mit den Gepflogenheiten von »Mittelerde« oder gar den Umgangsformen auf anderen Planeten vertraut sind, nicht mehr allzu sehr befremden sollten. Und wie im Kino, ist auch diese Story eingekleidet in eine kurzweilige Mischung aus Sex und Crime – Verrat und Betrug, Liebe und Eifersucht, Mord und Totschlag.

Vordergründig geht es tatsächlich um den Zusammenstoß von Heidentum und Christentum; dies ist – zumindest für die Opernbühne – kein ungewöhnlicher Stoff, wenn man davon absieht, dass die hier geschilderten Vorgänge sich noch zu einer Zeit ereignet haben, als die christliche Kirche selbst schon gespalten, die Wiedertäufer hingerichtet und der Bildersturm vorüber waren. Auch Richard Wagner nimmt in zweien seiner Werke Bezug auf dieses Thema, aber das ist es nicht, was ein heutiges – modernes – Publikum daran interessiert. Wie »Tannhäuser« und »Lohengrin« ohne Weiteres als (zudem autobiographisch gefärbte) Künstlerdramen oder als Darstellungen gesellschaftlicher Außenseiter verstanden und aufgeführt werden, so dient die Thematik auch in Siegfried Wagners Oper Der Heidenkönig vor allem als Hintergrundfolie, vor der noch eine zweite, die eigentliche Geschichte erzählt wird.

Unbehelligt von den religiös motivierten Kriegen und Kämpfen um sie herum lebt ein Völkchen heidnischer Preußen Ende des 16. Jahrhunderts wie in einer Parallelwelt. Die christlichen Elemente, die bereits in ihre Gesellschaftsordnung eingedrungen sind, haben sie assimiliert, ohne dabei ihren alten Glauben aufzugeben. Diesen können sie aber aufgrund der restriktiven Besatzungspolitik der christlichen Usurpatoren nur heimlich im Verborgenen ausüben. So beten sie »des Tags zu Gott, des Nachts zu den Götzen« (Vorspiel), wie der Mönch – weniger verständnis- als vorwurfsvoll – feststellt, wenn er plump und unsensibel die Totenfeier für den ermordeten König stört. (Der Attentäter wird übrigens nicht nur nicht gefunden, sondern gar nicht erst gesucht.)

Für die vakante Krone des Heidenkönigs scheint der allseits beliebte Radomar der geeignete Kandidat zu sein. Aber der Mönch, der die Neubesetzung des Throns aus missionarischen Erwägungen prinzipiell verhindern will, rät ihm davon ab, indem er ihn vor den anrückenden Polen warnt (I/1); Ellida, die ungetreue Ehefrau, sorgt sich um den verlassenen Gatten und deutet einen bösen Traum als Warnung (I/2); der Anführer des wenig später eintreffenden polnischen Heeres, Jaroslaw, hat es aus Machtdünkel auf den neuen Heidenkönig abgesehen und stellt sogleich Nachforschungen an (I/5); und aus Rache für verschmähte Liebe versucht nicht zuletzt noch Gelwa mit Hilfe ihrer Brüder die Karriere Radomars zu hintertreiben (I/4, II/1). Bis zum bitteren Ende also verfolgen sie alle, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, dasselbe Ziel – obwohl Radomar die Würde (und Bürde) des Amtes gar nicht übernehmen will! Die Bemühungen sind unnötig und sinnlos, die dramatischen Verwicklungen letztlich überflüssig – auf der Bühne, wie im Leben.

Wie sich im weiteren Verlauf der Handlung herausstellt, sind die Unterschiede zwischen Heidentum und Christentum oft nicht so groß, wie beide Seiten glauben oder gerne glauben machen möchten. In Fragen von Sitte und Moral sowie in der Bewertung von Schuld und Unschuld überschneiden sich die Sphären sogar: zum Entsetzen der Hinterbliebenen sprechen zuerst die christliche, dann auch die heidnische Gerichtsbarkeit Radomar des Totschlags an Krodo frei. Und bei näherem Hinsehen werden selbst noch in der grotesken Mühlenszene rund um das Kupâlo-Fest (II/2) Ähnlichkeiten der Zeremonie – etwa bei der kuriosen Buße durch Haareraufen, am unvermittelten Niederknien oder in der obligatorischen Kollekte – wie in einem Zerrspiegel erkennbar. Dabei demonstrieren die Preußen ein durchaus ungezwungenes Verhältnis zu ihren Gottheiten, die für sie keine unfehlbaren und nicht einmal unantastbare Autoritäten sind: sie verprügeln (I/1), beschimpfen und bedrohen (II/3) sie nicht nur, sondern entledigen sich ihrer nötigenfalls auch kurzerhand durch Versenken im Mühlbach, um anschließend gut gelaunt (»Wir sind ihn los! ... Lasst uns jauchzen!«) zum »Kirweiten« überzugehen.

Siegfried Wagner desavouiert diese real existierenden heidnischen Bräuche jedoch nicht, sondern macht vielmehr deutlich, wie Frömmigkeit und Religionsausübung in betrügerischer Absicht ausgebeutet werden können. Nach Radomars Enthüllungen und Hoggos Geständnis ist das über den faulen Zauber zu Recht empörte Volk auch im Umgang mit seinem zynischen Waidelotten wenig zimperlich und wird nur durch das plötzliche Auftauchen der Wehklage von weiteren Ausschreitungen und Übergriffen abgehalten. Auch als zuvor, beim kollektiven Bußritual, die Reihe an Waidewut kommt, ist sein eigenes »Büßen« mit falschem Bart und Perücke nicht echt: erst als diese im Eifer der Menge abfallen, wird die Sache auch für ihn ernst und – schmerzhaft. Am Ende der Oper schließlich glaubt Waidewut an gar nichts mehr: selbst Betrüger, wittert er überall nur Betrug (»Nacht des Foppens!«, III/5) und hat – zu seinem eigenen Schaden – jeden Glauben verloren. Wie schon die ersten beiden Akte jeweils mit einer nachdenklichen Frage Radomars enden – »Ellida! Wärst du es nicht?« (nämlich seines Schutzes wert; I/8) und »Wehklage! Wimmert mir dein jammernd Weh?« (II/4) – so klingt vielleicht auch der dritte – und damit die Oper insgesamt – mit einer Frage aus, die lautet: Macht nicht der alte Spuk nur einem neuen Platz?

Zweimal indes, nämlich in den entscheidenden Eckszenen des Werkes – am Anfang, wenn der Mönch Perkunos erblickt (I/1), und am Ende, als Elbegast mit seiner Schar im Berg erscheint (III/6) – kommen Heidentum und Christentum einander so nahe, dass die Grenzen von Glaube und Aberglaube verschwimmen. Frappierend in diesem Zusammenhang mutet Ellidas Traum an, den sie zu Radomars Mahnung und Warnung erzählt (»Ich sah dich verraten, blutend dein Haupt! Vergiftet die Krone!«, I/2) und mit der impliziten Assoziation der Dornenkrone des Heilands eine Analogie von Juden- und Heidenkönig herstellt: Vor dem als sinnlos erachteten Opfertod jedenfalls will sie Radomar – zugunsten eines glücklichen Lebens – unter allen Umständen bewahren.

Ellida gehört zum Typus jener selbstbewussten, starken Frauengestalten, durch die Siegfried Wagners Opern generell gekennzeichnet sind. Sie ist mit Otmar durchgebrannt, kehrt aber, als die Wahl Radomars zum neuen Heidenkönig bevorsteht, aus Sorge um den verlassenen Ehemann zurück und überzeugt diesen von ihrer unverminderten Zuneigung zu ihm. Dadurch werden in Gelwa, die sich während Ellidas Abwesenheit berechtigte Hoffnungen auf Radomar machen konnte, heftige Eifersuchtsgefühle geweckt (I/3), die den Tod ihres Bruders Krodo zur unmittelbaren Folge haben (I/8), welcher wiederum Rachegelüste bei Waidewut auslöst (III/1). Dessen ungeachtet, zeigt sich Ellida aber auch eines Abenteuers mit Jaroslaw nicht abgeneigt, obwohl dieser sie erpresst (I/6) – zuerst, um Informationen über den nächsten Heidenkönig zu erhalten, und dann aus erotischem Interesse an ihr (II/4). Sowohl als Vertreter der Hegemonialmacht wie als Rivale um die Gunst Ellidas wird er unversehens zur größten Bedrohung für Radomar – und ausgerechnet ihm gibt Ellida sich (beinahe) hin.

Neben der Dreiecksbeziehung Radomar, Ellida, Gelwa existiert also noch eine Vierecksbeziehung von Ellida, Otmar, Radomar und Jaroslaw. Beide Konstellationen werden völlig von Ellida dominiert, die auf ihrem Weg der Emanzipation nicht nur alle gesellschaftlichen Konventionen hinter sich gelassen hat, sondern darüberhinaus noch zu freier Liebe und Promiskuität sich bekennt und dies auch praktiziert (»Mein Herz ist ihm treu! Verriet ihn auch mein Leib!«, III/2). Damit wirkt sie durchaus faszinierend auf Gelwa, die ihr allerdings ebensowenig zu folgen vermag (III/3) wie Radomar, der es zunächst versucht (I/3), dann aber doch nicht über seinen Schatten springen kann (II/4), und Jaroslaw, an dessen Emphase (»Greif zu, wo du Liebe finden kannst!«) zumindest Zweifel angebracht sind, weil sie aus Eifersucht (»Wie konntest du dich dem Unwürdigen geben!«) und Eigennutz (»Kämpf nicht! Erlieg, herrliches Weib!«) gespeist wird und deren Gipfel: »Lebe! Liebe! Du musst! Du darfst!« (II/4) Ellida schon längst – und zwar ohne ihn – erreicht hat.

Aus diesem Kontext ergibt sich eine erstaunliche Verbindung zu den Gedankengängen des – fragmentarisch gebliebenen – Essays »Über das Weibliche im Menschlichen«, in dem Richard Wagner noch unmittelbar vor seinem Tod Fragen und Zusammenhängen von Zivilisation und Eigentum, »Konventions-Heirathen« und Degeneration, Mono- und Polygamie nachspürt. Der letzte Satz der Niederschrift nimmt sich geradezu wie eine Paraphrase der hier versuchten Lesart des Heidenkönig aus: »Gleich wohl geht der Prozeß der Emanzipation des Weibes nur unter ekstatischen Zuckungen vor sich. Liebe – Tragik.« (Richard Wagner, Sämtliche Schriften und Dichtungen, Leipzig 1911; Bd. XII, 608)

Der Emanzipation des Individuums entspricht die der Gesellschaft, die in der heidnischen Enklave zu einer durch Gleichberechtigung und Ebenbürtigkeit geprägten Form gefunden hat und nun durch den christlich orientierten Imperialismus akut gefährdet ist. Doch der Appell, den der Oberpriester dagegen setzt (»Stürzt ihn, der die Altäre frech gestürzt!«, Vorspiel), klingt nicht so sehr wie ein Aufruf zur Vergeltung nach dem Prinzip »Auge um Auge, Zahn um Zahn« als nach einem aus Notwehr legitimierten: »Macht kaputt, was euch kaputt macht« – immerhin steht ein feindliches Heer mitten in der Stadt, während der Mönch das Schlimmste zwar zu verhindern, gleichzeitig aber auch die ideologische Rechtfertigung der Okkupation nachzuliefern sich bemüht. Der Zusammenprall von Heidentum und Christentum setzt somit auch einen Prozess positiver Veränderung in Gang, den die beiden Individuen Radomar und Ellida exemplarisch durchlaufen. So verstanden, hält Siegfried Wagner dem dialektischen Materialismus mit seiner Oper Der Heidenkönig einen dialektischen Idealismus der Freiheit des Einzelnen und seines Glücks entgegen – mögliches Scheitern nicht ausgeschlossen.


Achim Bahr


Quelle: Programmheft zur Aufführung von Der Heidenkönig, Solingen 2004 (mit freundlicher Genehmigung des Autors)
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