| Siegfried Wagner berichtet …Zu Konzerten in Bayreuth und Hof fuhr ich nachts mit den Dresdener Philharmonikern nach Dresden. Ich denke gern an diese Reise zurück, denn ich hatte da reiche Gelegenheit – wir alle schliefen nämlich nicht auf den harten Bänken der dritten Klasse – in die Psyche und in den Geist des Orchestermusikers zu blicken. In Dresden war mir vorhergesagt worden: »Wissen Sie, dass die Dresdener Philharmoniker alle Kommunisten sind?« Meine Antwort: »Ob Kommunist oder nicht, ist mir ganz gleich. Ich habe noch nie Anstand gehabt, weder mit Orchestermusikern, noch mit Choristen, noch mit dem technischen Bühnenpersonal. Unzufriedene gibt es wohl überall. Mit ein bisschen Herz und Humor, wenn man die Leute nicht unnötig quält und durch kapriziöse Intentionen nervös macht, kommt man gut mit ihnen aus !«
Während dieser Nachtfahrt waren wir Kommunisten im guten Sinne. Da ich nicht der Ansicht bin, dass Vornehmheit darin besteht, dass man erster oder zweiter Klasse fährt, sondern dass Vornehmheit der Gesinnung die echtere ist, saß ich zusammen mit den Musikern auf den Holzbänken, an die man sich ja längst gewöhnt hat und die den Vorteil haben, dass sie nicht mit Schieberbazillen bedeckt sind, denn auf dem Holz fühlen sich weder Bazillen noch Schieber wohl. Wir plauderten die ganze Nacht durch, und zwar nicht dummes Zeug. Ich staunte über den Bildungsdrang dieser beruflich doch so stark eingenommenen Männer. Für manchen anderen beschämend. In den Schriften und in dem Leben meines Vaters und der anderen Meister wussten sie dennoch Bescheid. Chamberlain, Glasenapp und andere Werke waren ihnen bekannt. Ich freute mich auch, aus dem Munde dieser Musiker Worte echter Begeisterung für die Kunst Franz Liszts zu hören. Um so erfreuender dann, als man es ja immer noch für gut befindet, sie in der Presse schlecht zu machen. Der Orchestermusiker hört eben, wo wirklicher musikalischer Gehalt ist. Sie waren alle entzückt von dem Mephisto-Walzer, den wir eben gespielt hatten. Diese Begeisterung war dadurch bedeutungsvoll, da das Einstudieren dieses Werkes eher dieselbe hätte herabdrücken müssen, und zwar durch das miserable Orchestermaterial. Vor 14 Jahren hatte ich dieses Werk in Paris dirigiert und musste mich damals vor den Franzosen schämen, dass deutsches Orchestermaterial so aussähe. Jetzt, nach 14 Jahren, ein funkelnagelneues Material mit all denselben Fehlern. Man scheint es in Leipzig nicht für nötig zu halten, für Liszt korrektes Orchestermaterial herzustellen – »für Liszt gut genug«. Nun, ich kann mit bestem Gewissen sagen, dass Werke wie Faust-Symphonie, 13. Psalm, Preludes, Mephisto-Walzer, a-Moll-Sonate und viele andere, manche Werke überleben werden, die man jetzt so geflissentlich protegiert und in den Himmel hebt. Das Urteil der Orchestermusiker ist mir jedenfalls mehr wert ! –
Dass unsere Musiker sich heutzutage überhaupt noch Begeisterungsfähigkeit erhalten können, ist ein Wunder. Kein Beruf zerrüttet die Nerven so, wie der des Musikers, besonders bei der modernen Musik, die nicht erheben und erfreuen will, sondern den Hörer peitscht oder kitzelt ! Sensation um jeden Preis. –
Wenn ich diese kleine Plauderei auf Anregung meines Freundes Prof. Schmitz, veröffentlichte, so habe ich dabei einen Zweck: Ich möchte gern, dass man der tapferen Künstlerschar des Philharmonischen Orchesters in Dresden, welche sich in ständiger Entwicklung zum Guten und Besten befindet, von Seiten der Dresdener Bürgerschaft mit recht regem Interesse entgegenkommt.
Ein Musiker bedarf mehr als alle anderen Berufe einer guten Ernährung. Es müssen ihm die schwersten Lebenssorgen genommen werden. Er ist da, durch sein Können, Anderen Freude zu machen. Nun sollen die Anderen ihm auch eine Freude erzeigen und seine Kunst in jeglicher Weise unterstützen und belohnen.
Dies ist mein Weihnachtswunsch. Siegfried Wagner [Dezember 1919 (?)]
|