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Verismo als theatraler Akt

Internationale Siegfried Wagner Gesellschaft e.V., Bayreuth

 

Von Wagner kommend, zu Wagner kehrend

Zur Entwicklungsgeschichte

Die Geschichte der Oper ist eine Geschichte ihrer Reformen, ihrer Wellen, ihrer zyklischen und antizyklischen Verknüpfungen. Folgt man der lexikalischen Erklärung des Begriffes Verismo, so ist dieser zunächst ein Synonym für den italienischen Naturalismus in Drama, Literatur und bildender Kunst seit den 1880er Jahren bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Der neuen Kunstform des Verismo vorausgegangen war die Romantik, die ihrerseits die Klassik abgelöst hatte, mit ihren realen Situationen und realem Umfeld, gemessen am humanistischen Ideal nach dem Vorbild der Antike. Die Romantik war die künstlerische Antwort auf die Folgen der französischen Revolution, Ausdruck einer Realitätskrise. Das Bürgertum war enttäuscht  über den gescheiterten Emanzipationsprozess, bei dem die Utopie verloren ging. Da die bürgerlichen Ideale aufgebraucht waren, setzte eine emotionale und geistige Fluchtbewegung aus der Realität ein. Die Verzweiflung an der Realität gebar die Welt der Märchen und Sagen neu, in der die Wirklichkeit nicht mehr realistisch wiedergegeben wird. Das Bewusstsein des Scheiterns der bürgerlichen Werte evozierte ein erneuertes feudales Prinzip der Lustbarkeit, das sich der bürgerlichen Tätigkeit verweigerte.

Wie fast immer, so hinkte das Musiktheater auch beim Verismo den Entwicklungen der Literatur und Malerei hinterher. Verismo als eine Stilrichtung der Musikbühne, die in ihren Opern ein wirklichkeitsgetreues Abbild des menschlichen Lebens geben wollte, setzte ab 1890 ein. Folglich verstand sich der Verismo als »Reaktion (…) vor allem auf den symbolistischen Mystizismus der Wagnerschen und nachwagnerschen Götter- und Heldenoper«(1).

Nachträglich lassen sich Bizets Oper »Carmen«, mit ihrem ausgesprochen realistischen Sujet, und Verdis »La Traviata«, als ein gesellschaftliches Gegenwartsdrama, als Frühformen des Verismo auf der Opernbühne deuten. Die unübertroffenen Säulen des Verismo bilden jedoch die bei Aufführungen bis heute häufig gekoppelten Opern »Cavalleria rusticana« (1890) und »Pagliacci« (1892).

 

 
Richard und Ruggiero

Der zwanzigjährige Ruggiero Leoncavallo hatte bei einer Begegnung in Bologna Richard Wagner, dem Meister der damals gerade uraufgeführten »Nibelungen«-Trilogie(2), seine Pläne zu seiner groß angelegten historischen Trilogie »Crepusculum« dargelegt, umfassend »I Medici«, »Girolamo Savarola« und »Cesare Borgia«. Dieses Vorhaben blieb bis auf Teil I unausgeführt, denn erst 1893 wurden die »Medici« uraufgeführt, ein Jahr nach den viel moderneren, später komponierten »Pagliazzi«. Und seit der Uraufführung der »Pagliazzi«, am 21. Mai 1892 im Mailänder Teatro dal Verme gehörte Leoncavallo neben Amilcare Mascagni mit seiner Oper »Cavalleria rusticana« zu den Protagonisten einer neuen Richtung auf den Musikbühnen, des Verismo.

Leoncavallo aber war ein überzeugter Anhänger Richard Wagners. Und er hielt seinem Idol die Treue(3). Wie Wagner, so schrieb Leoncavallo seine Libretti selbst. Von den Techniken des Bayreuther Meisters übernahm er in seine Partituren die Leitmotivik, setzte – wie Wagner im »Ring« – Orchesterzwischenspiele bei offener Bühne ein und entwickelte den Vokalstil von der Lyrik des Belcanto hin zu einem Gesangsstil der dramatischen Effekte.

Breite Chorszenen als ausführliche Genrebilder, wie in I,1 und II,1 der »Pagliacci«, waren ohnehin kein Novum, denkt man etwa an den Doppelchor »In Frühn versammelt uns der Ruf« in Wagners »Lohengrin« (II,3). Leoncavallos Handlung spielt unter Bauern und fahrenden Komödianten, also einfachem Volk. Bereits Wagners »Fliegender Holländer« mit Seeleuten und einem Jäger, ist auf niederem sozialen Niveau angesiedelt.

Am 15. August 1865, dem Festtag Mariä Himmelfahrt, soll in einem kleinen Ort bei Montalto in Kalabrien der eifersüchtige Bajazzo einer italienischen Komödiantentruppe seine Gattin und den Diener der Familie Leoncavallo erstochen haben, als er die beiden hinter der Szene in flagranti ertappte. Nach eigener Aussage will der siebenjährige Ruggiero Leoncavallo dies erlebt haben. Aber was den Prototyp des Verismo auf der Opernbühne als veristisches Prinzip, also wahrhaftig untermauern sollte, hat sich als Falsifikation erwiesen. Die Behauptung des Dichterkomponisten Leoncavallo, die Handlung seiner »Pagliazzi« als Siebenjähriger selbst erlebt zu haben, wurde von der Wissenschaft des Musiktheaters als eine Mystifikation entlarvt(4).

Mit seiner Verklärung der eigenen Inspiration stand Leoncavallo keineswegs allein. Auch andere Komponisten liebten es, die Entstehung ihrer Werke dichterisch zu überhöhen, allen voran Leoncavallos Vorbild Richard Wagner, etwa mit seiner unhaltbaren Legende der Karfreitags-Inspiration zu »Parsifal«. Dabei sind Vorbildsituationen eher dort zu suchen, wo ein Dichterkomponist sie nicht eingesteht.

 

 
Wirklichkeit und Spiel

Richard Wagners erste komische Oper, »Das Liebesverbot«, erlebte bei der Uraufführungsproduktion selbst eine Verismo-Situation á la »Pagliacci«. Das Eifersuchtsdrama der beteiligten Protagonisten hatte, noch vor Beginn der zweiten Aufführung, über die Bühnenhandlung dominiert und die Komödie beendet, bevor deren Spiel einsetzen konnte:

    Ungefähr eine Viertelstunde vor dem beabsichtigten Beginn sah ich nur Frau Gottschalk mit ihrem Gemahl und sehr auffallenderweise einen polnischen Juden im vollen Kostüm in den vollen Sperrsitzen des Parterres. Dem ohngeachtet hoffte ich noch auf Zuwachs, als plötzlich die unerhörtesten Szenen hinter den Kulissen sich ereigneten. Dort stieß nämlich der Gemahl meiner ersten Sängerin (der Darstellerin der ‚Isabella), Herr Pollert, auf den zweiten Tenoristen, Schreiber, einen sehr jungen hübschen Menschen, den Sänger meines ‚Claudio, gegen welchen der gekränkte Gatte seit längerer Zeit einen im Verborgenen genährten eifersüchtigen Groll hegte. Es schien, dass der Mann der Sängerin, der mit mir am Bühnenvorhange sich von der Beschaffenheit des Publikums überzeugt hatte, die längst ersehnte Stunde für gekommen hielt, wo er, ohne Schaden für die Theaterunternehmung herbeizuführen, an dem Liebhaber seiner Frau Rache zu üben habe. Claudio ward stark von ihm geschlagen und gestoßen, so dass der Unglückliche mit blutendem Gesicht in die Garderobe entweichen musste. Isabella erhielt hiervon Kunde, stürzte verzweiflungsvoll ihrem tobenden Gemahl entgegen und erhielt von diesem so starke Püffe, dass sie darüber in Krämpfe verfiel. Die Verwirrung im Personal kannte bald keine Grenze mehr: für und wider ward Partei genommen, und wenig fehlte, dass es zu einer allgemeinen Schlägerei gekommen wäre, da es schien, dass dieser unglückselige Abend allen geeignet dünkte, schließlich Abrechnung für vermeintliche gegenseitige Beleidigungen zu nehmen. Soviel stellte sich heraus, dass das unter dem Liebesverbot Herrn Pollerts leidende Paar unfähig geworden war, heute aufzutreten. Der Regisseur ward vor den Bühnenvorhang gesandt, um der sonderbar gewählten kleinen Gesellschaft, welche sich im Theatersaale befand, anzukündigen, dass ‚eingetretener Hindernisse wegen die Aufführung der Oper nicht stattfinden könnte.(5)

Bewusst oder unbewusst spielen diese Erfahrungen in Wagners zweite und letzte komische Oper hinein. Am Ende des Mittelaktes der »Meistersinger von Nürnberg« kommt es zu einer großen Prügelei, angefacht von den nur vermeintlichen Nebenbuhlern, dem Stadtschreiber Beckmesser und dem Lehrbuben David. Frauen schütten den Inhalt ihrer Nachttöpfe auf die streitenden Männer, und in der Kontrapunktik der Singstimmen geht deren konkreter, verbaler Inhalt für den Rezipienten verloren. Die Gattung Oper, in der – im Unterschied zum Schauspiel – stets mehrere zugleich ihre Meinung äußern können, ohne Rücksicht auf verbale Kommunikation, war nie zuvor so weit gegangen und damit in ihrer Radikalität dem Verismo so nahe wie in diesem bis zu siebzehnstimmigen Ensemble(6).

Das Entwirren der Fäden eines solchen ‚Wahns erlaubt erst die Philosophie des Schuster-Poeten Hans Sachs. Die Ausübung seines Broterwerbs, das Anfertigen von Schuhen für seinen Rivalen, vereint in dieser Oper die konkreten handwerklichen Vorgänge – hörbar auch in den vom Komponisten rhythmisch notierten, wahrhaftigen Hammerschlägen – mit der Interpretation eines doppeldeutigen Liedes, das seinerseits  biblische und aktuelle Vorgänge in Kollision setzt.

Die Blessuren der nächtlichen Nürnberger Prügeleien scheinen jedoch, sieht man von drastischen Übertreibungen in der Beckmesser-Pantomime des dritten Aufzugs ab, nicht so gewichtig zu sein. Nur die schon im ersten Aufzug konstatierte Krankheit des 13. Meisters Nikolaus Vogel muss gravierender sein, denn sonst hätte sich auch dieser Meister, der bei der Singschul fehlte, den Aufzug auf der Festwiese nicht entgehen lassen, wovon jedoch in Wagners Partitur nichts vermerkt ist. Gleichwohl ist Vogels Kranksein nicht vergleichbar den psychosomatischen, nur durch Aufhebung der Polarität zu heilenden Krankheiten von Tristan und Amfortas. Jenes Leiden, das der Verismo auf die Opernbühne bringt, ist in der vergleichsweise heilen, wenn auch durch Wahn bereits aus den Fugen geratenen Welt der Nürnberger Meistersinger nicht zu konstatieren, denn es ist das soziale Elend.

Ansätze zu solchem sozialen Elend gibt es allerdings in Wagners erster komischer Oper, bei dem zum Tode verurteilten Claudio und dem Schicksal seiner – szenisch nicht in Erscheinung tretenden – schwangeren Julia, und auch – was die Arbeits- und daraus folgende Orientierungslosigkeit betrifft – bei jenen Figuren, die durch das Verdikt der freien Liebe um ihr Geschäft gebracht wurden, Dorella und Pontio Pilato.

Nun ist die komische Oper, auch die Opera buffa, naturgegeben spielbetonter als die seriöse Schwesterngattung. Sie suchte seit je Topoi des einfachen Lebens und Handwerks, und war somit a priori ‚veristischer. Die veristischen Opern sind jedoch nur in Ansätzen komisch, so wie das Leben in tragischen Situationen komischer Momente nicht entbehrt(7). Ihre stringente, die Affekte steigernde Handlungsführung zielt auf einen krassen, gar drastischen Schluss. Elementare Triebsituationen sind Handlungsmotivationen der veristischen Oper. Ehebruch, Eifersucht, Wahnsinn und Mord, in realistischer, unreflektierter Darstellung, sind an der Tagesordnung. 

 

 
Drastische Wahrheit

Auch die im Folgenden skizzierte Handlung scheint allen Anforderungen des Verismo zu entsprechen: Unter dem Zwang seiner Ehefrau mordet der Vater seinen Sohn, der zuvor seine Zwillingsschwester geschwängert hat. Die Halbschwester, die dem Sohn zuhilfe kommen sollte, will der rasende Vater mit aufgezwungener Prostitution bestrafen.

Im besagten leidenschaftlichen Inzest- und Ehebruchs-Drama kommen so konkrete Alltags-Vorgänge wie das Reichen von Getränken und Speisen und der Verzehr eines Mahls, realistisch breit zum Tragen.

Fortgesetzt wird diese Realismus-Schiene, mitsamt plakathafter Wirkung der Musik, noch in einem die Handlung dieser Oper fortführenden Werk, in dessen erstem Akt das Schweißen eines Schwertes ebenso minutiös vorgeführt wird, wie der Vorgang des Brauens eines giftigen Eiertrunks.

Auch die Musik dieser Handlung ist drastisch, expressiv und sinnlich, wie es der Verismo verlangt. Die Wahrheit der dargestellten Menschen und Ereignisse, sowie die Echtheit ihrer Gefühle ist unbestritten veristisch. Nur dass die handelnden Personen Namen aus dem Mythos haben und die Handlung ebenda angesiedelt ist, trennt Wagners »Die Walküre« von den nachgeborenen Veristen(8). Dabei sahen die Veristen die Forderung nach der Gegenwart ihrer Stoffe durchaus nicht so eng; die gespielte Zeit »Pagliacci« lag bei der Uraufführung über zwanzig Jahre, bei Leoncavallos »La Bohème« sechzig Jahre zurück. Hinreichend für die gespielte Zeit des Verismo ist offenbar das 19. Jahrhundert. Dies wiederum ist seit den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts die Zeit, in der Regisseure die Geschichte des »Ring«-Zyklus bevorzugt darstellen. In Patrice Chéreaus epochaler Inszenierung des »Ring des Nibelungen« wurde auch die Drastik der Handlung so betont, dass vollends ein Verismo-Drama zutage trat.

Sprachlicher Gipfel des Verismo auf der Musikbühne dürfte übrigens das nachdenkliche »Hm!« eines Bassisten sein, das – als Viertelnote, a cappella auf h – nicht etwa in einer komischen Oper, sondern in  Wagners Bühnenweihfestspiel »Parsifal« erklingt(9).

 

 
Veristisches Künstlerdrama

Wiederholt wählte Leoncavallo Künstlerschicksale zum Thema seiner Opern. Henry Murgers auch von Puccini zum Opernstoff erhobene »Scènes de la vie de bohème« in »La Bohème« (1897) und das tragische Schicksal der Revue-Künstlerin Zaza in »Zazà« (1900) zeichnen Anerkennung und Elend dieses Berufsstandes. Eine handelnde Figur des »Pagliazzi«-Dramas, Tonio, wird bei Leoncavallo zum Prologus des gesamten Bühnenwerkes – das ist neu. Denn etwa im »Rienzi« bildet die von einem Herold als Spiel im Spiel angekündigte Darstellung im zweiten Akt nur eine Parallele zur Haupthandlung. Aber der Prolog der »Pagliacci« blieb Einzelfall, kein hinreichendes Indiz für die Gattung Verismo.

Das Spiel im Spiel, hier die Commedia dell arte, mit stilisierten Tanzformen von Menuett und Gavotte, bedient sich anderer musikalischer Mittel, um die Spielebenen voneinander abzugrenzen. Archaisierende Formen verwendet bereits Wagner für die traditionsbewusste künstlerische Darbietung der Meistersinger. Was in der Commedia das thematische Aufblitzen der Motive aus Canios erstem Arioso und das Spott-Thema aus dem Duett Nedda-Tonio, ist die Fortentwicklung der Zitate aus »Tristan und Isolde« in der vierten Szene des dritten Aufzugs der »Meistersinger von Nürnberg«.

Dabei ist Leoncavallos Tonsprache natürlich italienisch geprägt, basierend auf der italienischen Tradition des Belcanto, der sich im Verismo jedoch zusehens durch Hervorhebung des dramatischen Effekts der Praxis des Wagnerischen Gesangsstils annäherte. Schließlich erwies sich Ruggiero Leoncavallos Wagner-Nähe doch noch seiner Karriere abträglich.

Leoncavallo selbst hielt den »Roland von Berlin«, den er um die Jahrhundertwende im Auftrag Kaiser Wilhelm II. auf sein eigenes, italienisches Libretto komponierte, zeitlebens für seine bedeutendste Oper. Nach der Uraufführung der ins Deutsche übersetzten Oper, am 13. Dezember 1904 an der Königlichen Oper in Berlin, erteilte Enrico Caruso, der die Partie des Henning Mollner übernehmen sollte, dem Komponisten eine Absage. So platzte die tatsächlich bereits mit Caruso als Henning Mollner geplante, internationale Reihe von Aufführungen, die dieser Oper den Erfolg gesichert hätte. Enrico Caruso nämlich beurteilte die italienisch gefärbte Tenorpartie des Henning als zu wagnerisch(10).

Unzweifelhaft siegt im veristischen Künstlerdrama der Bajazzi das Leben über die Kunst, wie auch schon in den »Meistersingern von Nürnberg«, allerdings in tragischer Abwandlung, so wie Wagner selbst seinen »Lohengrin« als Künstlerdrama verstanden wissen wollte, eine Tendenz, die bis zu seinem letzten Bühnenwerk reicht(11).

Obwohl sich der Verismo vom Wagnerschen Musikdrama absetzen und befreien wollte, ist er ohne die Werke Richard Wagners nicht denkbar.

Wagners Einfluss findet sich auch in den Werken jenes Komponisten, dessen Schaffen man – neben dem Leoncavallos – mit der Kunstform des Verismo auf der Opernbühne identifiziert, Pietro Mascagni (1863 – 1945). Begonnen hatte Mascagni sein Bühnenschaffen mit der Oper »Guglielmo Ratcliff«, auf eine Vorlage von Heinrich Heine, die in ihrer Handlung dramatische Parallelen zu Richard Wagners »Fliegendem Holländer« aufweist, der ja seinerseits ebenfalls auf eine Erzählung Heines(12) zurückgeht. Und in der Oper »Le Maschere« (1900) stimmt Mascagni einen Schlussgesang auf das Lob der italienischen Kunst an, der deutlich dem Vorbild der Schlussansprache des Hans Sachs in Wagners »Meistersingern von Nürnberg« folgt.

 

 
Deutscher Verismo nach Wagner

Leoncavallos »Roland von Berlin« war ein Auftragswerk des von den »Pagliacci« und den »Medici« gleichermaßen begeisterten deutschen Monarchen Kaiser Wilhelm II., aber es blieb eine italienische Oper. Der deutsche Verismo ließ länger auf sich warten.

Gemeinhin wird Franz Schrekers erste vollgültige Oper »Der ferne Klang« als deutsche Antwort auf den Verismo angesehen. Das erst 1910 in Frankfurt am Main uraufgeführte Bühnenwerk jenes Komponisten, den Paul Bekker in seiner Studie zur Kritik der modernen Oper als den einzigen legitimen Nachfolger Richard Wagners apostrophiert hatte(13), spielt in der Gegenwart, im sozial niedrigen Milieu, zwischen Bürgerhaus, Bordell und Straßencafé. Gleichwohl enthält diese Oper – auf ein eigenes Libretto des Komponisten – irreale, symbolistische und märchenhafte Momente, die in den folgenden Bühnenwerken des Komponsiten noch deutlicher dominieren sollten. Allerdings übertrafen die Opernstoffe Schrekers die der italienischen Veristen bei weitem an Drastik.

Eine Reaktion auf  den italienischen Verismo in Form eines flachen Nachvollzugs erfolgte bereits in Eugen d'Alberts 1903 in Prag uraufgeführter, in Deutschland viel gespielter Oper »Tiefland«. Hier ist Verismo zu einem natürlichen Lebensgefühl des biederen, mit den gesellschaftlichen Spielregeln unvertrauten Hirten Pedro auf einer Hochalp der Pyrenäen hochstilisiert. Max von Schillings' später, erfolgreicher Verismo-Beitrag »Mona Lisa« (1915) benennt als Zeit von Vor- und Nachspiel die Gegenwart, während die eigentliche Handlung Ende des 15. Jahrhunderts in Florenz angesiedelt ist.
 
Auf eine Parallelsituation zur Handlung der »Pagliacci« und zu Mascagnis »Iris« (1898), in Bezug auf das Ineinandergreifen von Spiel und Wirklichkeit beim Spiel von Gauklern – noch vor der erneuten mythisch-apotheotischen Verbrämung und in Strauss' »Ariadne auf Naxos« (1912) – treffen wir in Siegfried Wagners dritter Oper der kobold aus dem Jahre 1903, die – wie die meisten Bühnenwerke Siegfried Wagners – auf jegliche Gattungsbezeichnung verzichtet. In dieser, im frühen 19. Jahrhundert (!) angesiedelten Opernhandlung überlagern und durchdringen sich Realität und Irrealität, was eine veristisch gezeichnete Realebene voraussetzt. Der Kobold ist ein von seiner Mutter gleich nach der Geburt umgebrachter Bub. Seine Schwester Verena ahnt diese Vorgeschichte und singt, gleich Nedda, ein Vogellied als Ausdruck ihrer Psyche: der am schönsten singende Vogel ist blind, sein Gesang ist ein herzzerreißender Hilferuf. Im zweiten Akt der Oper gastiert eine fahrende Schauspielertruppe am gräflichen Schloss. Das Stück im Stück heißt »Eukaleia oder die Macht des Gesangs«, und die Gräfin selbst übernimmt die Partie der Eukaleia. Sie macht ihre Sache gut, aber der junge Schauspieler Friedrich fällt aus der Rolle, als er seine Geliebte, Verena, unter den Zuschauern der Darbietung im Schlosspark entdeckt. Eine Polonaise überbrückt das abgebrochene Spiel im Spiel, aber nichtsdestotrotz ersticht Verena aus Notwehr den Grafen, der sie mit einer vordem auf der Bühne nicht anzutreffenden Direktheit zu verführen und zu vergewaltigen versucht hat. Die Schauspieler können nur mit einem Sprung über die Schlossmauer, ins tiefer gelegene Terrain, ihr Leben retten.

Die Musiksprache arbeitet mit einer erweiterten, situativen Motivtechnik und einer Stimmführung, die den Einfluss von Belcanto und Italianita nicht leugnet. Als am 16. März 1905 in Monte Carlo Pietro Mascagnis »Amica« uraufgeführt wurde, war Siegfried Wagner unter den Besuchern. Aber während sich Mascagni spätestens mit der Legenda drammatica in tre parti »Isabeau« (1911) vom Verismo verabschiedet hatte(14), hing Siegfried Wagner dem Verismo noch mit zwei weiteren Bühnenwerken an, seinem Opus 9, der heidenkönig, und seinem Opus 10, der friedensengel(15). An letzterem Werk sei dies im Folgenden etwas näher untersucht.

Mit seiner Opernhandlung aus dem Jahr 1913 kämpft der Komponist für das Recht des Individuums, über sein eigenes Leben zu bestimmen und – in der letzten Konsequenz – um die Legalisierung der Bestattung von Selbstmördern. Das Stück spielt in Franken, in und bei Kronach, und die Zeitangabe scheint die Handlung ins 16. Jahrhundert zu entrücken, obgleich Handlungselemente – etwa die vom Arzt angewandte Phrenologie(16) – deutlich auf das 19. oder 20. Jahrhundert verweisen.

Der erste Akt beginnt mit dem Duett eines Brautpaars, das formal die Position eines Eröffnungschors, analog Mascagnis Praxis, hat und auch in der Stimmführung von Sopran und Tenor wie ein ausgedünnter Chor wirkt: aus der Dorfgemeinschaft haben sich Gundel und Anselm als ein Paar herausgelöst, das einen Ehebund eingehen will. Der Polterabend dieser Ehe ist aber nur die Folie für eine gescheiterte Ehe, die in diesem Akt im Mittelpunkt steht. Da Willfried (Tenor) von seiner Ehefrau Eruna (Sopran) nicht freigegeben wird, will er mit Mita, seiner Geliebten (Sopran), aus dem Leben scheiden. Doch die junge Mita ist nicht bereit zum Suizid und so bringt sich Willfried alleine um. Der Abschied Willfrieds von seiner Mutter erfolgt – wohl um die Parallele zu Turridus Abschied von der Mutter in »Cavalleria rusticana« nicht zu strapazieren – per Abschiedsbrief. Willfrieds Mutter, Frau Kathrin (Alt), hatte Schlimmes geahnt und daher Arzt und Pfarrer zu Hilfe gezogen. Aber weder die salbungsvollen Worte des Pfarrers (Bassbariton), noch die Schädelmessungen des Doctors (Tenor-Buffo) hatten etwas bei Willfried bewirkt. Um den Selbstmord zu vertuschen, überredet Frau Kathrin ihren Knecht Rudi (Bariton), vorzugeben, er habe Willfried im Wald gefunden, offenbar von Räubern erschlagen. Balthasar (Bassbuffo), ein Dorf-Original, warnt das Brautpaar in seinem Toast vor der Ehe und fordert auf, sich besser ohne Trauung zu lieben um nach Wunsch auch wieder auseinandergehen zu können. Die Weise von Balthasars Trinkspruch wird orchestral zum deftigen Brauttanz. Kurz vor Aktschluss – nachdem der Wind kurzzeitig die Kerzen ausgelöscht hatte – fordert Frau Kathrin »wild« erneut zum Tanz auf, und die Aufmunterung des Brautpaars »Heiter!« beantwortet der basslose – also erneut ausgedünnte – Chor mit zwei dreitaktigen Heil-Rufen.

In der ausschließlich realistisch gezeichneten Handlung des ersten Aktes trifft der Zuschauer gleichwohl auf einige Symbolik: die Braut ritzt sich an den Dornen der ihr von Eruna geschenkten Rosen blutig, und in Eruna weckt Balthasars Trinkspruch das schlechte Gewissen, ihren Gatten nicht freigegeben zu haben; theatrale Metapher ihrer bösen Ahnungen ist ein graues Männchen – »nur von ihr gesehen« lautet die Regieanmerkung –, das sie glaubt, durch die verschlossene Tür in Willfrieds Sterbezimmer verschwinden zu sehen.

Der zweite Akt spielt zunächst in einem Nonnenkloster, in das Mita geflüchtet ist. Ihrem ariosen Wunsch, der Buße neues Leben und neue Liebe folgen zu lassen, korrelliert der Chor der Nonnen (Sopran und Alt) durch Verse aus dem Stabat mater. Nach der umfangreichen Arie setzt ein Zwischenspiel ein, das der Verwandlung und dem Umzug der Mita dient, die der Zuschauer nun in freier Landschaft mit einer noch exponierteren und noch umfangreicheren Arie erlebt, dem Gesang »Friede! Freiheit! O beseligtes Atmen!«. Die Wiederbegegnung Mitas mit ihrer Jugendliebe, dem inzwischen ehelich an die Sadistin Gerta (Mezzosopran) geketteten Möchtegern-Playboy Reinhold (lyrischer Tenor), erweist sich als Fehlschlag. Mita erfährt, dass sie zwischenzeitlich als Mörderin Willfrieds gesucht wird. Gerta fesselt die Nebenbuhlerin – während des Kirchgangs der Gemeinde zum Kirchweihfest – an die Kirchenpforte. »Holder Friede! Dahin, ewig dahin!«, ist Mitas enttäuschter Kommentar am Ende des ausschließlich von realistischen Aktionen bestimmten Aktes. Mitas Trauer gemahnt dramaturgisch an Santuzza in »Cavalleria rusticana«, die ihr verlorenes Glück beweint. Die Funktion des Zwischenspiels in diesem Akt entspricht durchaus der Praxis von Mascagnis Intermezzos: im ersten Teil verdichtet es das Ausdruckspotential der Gesangsphase Mitas orchestral verdichtet und zeichnet dann mit impressionistischer Färbung ein Naturbild.

Wie der zweite Akt, so bringt auch der dritte erneut eine Reihe weiterer neuer Handlungsträger auf die Szene – darin etwa der Praxis Pietro Mascagnis in »I Rantzau« vergleichbar. Am Fuß der Staffelsteine tagt auf Anklage des Bauern Ruprecht (Bariton), eines in der Vorgeschichte der Handlung von Eruna zugunsten Willfrieds abgewiesenen Freiers, das Fehmegericht. Mita wird von der Anklage freigesprochen. Dem Freigraf des Fehmegerichts (Bass) verrät der Pfarrer schließlich, dass Frau Kathrin ihm bei der Beichte die Wahrheit anvertraut hat. So gesteht Frau Kathrin dem Freigrafen den Freitod Willfrieds. Ruprecht verlangt, dass Willfrieds Leichnam auf dem Friedhof wieder ausgegraben und anschließend am Wasen (»mit Katzen und Hunden«) verscharrt wird.

»Heftig«, so die Vortragsbezeichnung, und aggressiv leitet ein Zwischenspiel, das erneut die »innere Wahrheit des Geschehens«(17) komprimiert, zum abschließenden Schauplatz der Handlung, dem Friedhof über. Mita liegt tot auf Willfrieds Grab. Die Frage, ob auch sie unter Anwendung von Gewalt aus dem Leben geschieden ist, bleibt offen; in jedem Fall wurde ihr freiwilliger Tod ein Tribut an gesellschaftliche Zwänge – so wie Willfrieds Tod im ersten Akt der Handlung. Der Totengräber (Tenor) vermag einem sonderbaren Geschehen im Innern der Kirche – Glockenläuten und (Frauen-) Chorgesang – so wenig Einhalt zu gebieten wie der Pfarrer selbst. Der epische Chor verkündet die Friedensbotschaft und fordert, den Toten, dessen Seele längst »befreit von irdischem Fehl hin zu lichten Höhen flog« in geweihter Erde zu belassen. Während Ruprecht – als Pendant zur Vision der Eruna im ersten Akt – »allein von dem Vorgang nichts sieht und hört«, betet Kathrin eine hinter dem Grab sichtbar werdende Gestalt des Heiligen an: »Friedensbote! Heiliger Christ! Friedensengel! sei gegrüßt!« – eine finale Überhöhung, die an das Ende von Giacomo Puccinis fünf Jahre später entstandener, veristischer Oper »Suor Angelica« (1918) gemahnt, in der auch der lateinische Nonnen-Chorgesang hinter der Szene, analog Siegfried Wagners Praxis im zweiten Akt des friedensengel, eingesetzt wird. Wie Siegfried Wagner in der friedensengel, so geht es später auch Giacomo Puccini in »Suor Angelica« um die Frage, ob mit einer außerehelichen Liebe – die in »Suor Angelica« zur Geburt eines illegitimen Kindes führt – moralische Schuld verbunden ist. Und wie Siegfried Wagner die Handlung seiner Oper der friedensengel, so verlegten auch Puccini und sein Librettist Giovacchino Forzano die gegenwartsnahe Handlung der »Suor Angelica« Centenarien zurück; ein Wunder sollte für die Zuschauer des 20. Jahrhunderts im 17. Jahrhundert eher glaubhaft sein.

Im umfangreichen Orchestervorspiel zur Oper der friedensengel, das in a-Moll als Fuge einsetzt und wie ein romantisierter J.S. Bach wirkt(18), ist die Handlung der Oper bereits musikalisch umrissen, doch endet das Vorspiel – im Gegensatz zur Oper, die in A-Dur schließt – auf dem Halbschluss in C-Dur. Die reguläre Sonatensatzform, die auch in diesem Vorspiel gewahrt bleibt, wird durch die dichterische Idee abgewandelt, wie der Schweizer Musikologe Willy Hess in seiner Analyse trefflich nachgewiesen hat, wobei er zu dem Schluss kommt: »Mir scheint dieses Werk in einem viel tieferen Sinne zukunftweisend zu sein als aller revolutionäre Futurismus. Denn in ihm ist etwas verwirklicht, das im Sinne der Menschheitsentwicklung liegt: Das ausdruckshafte Gestalten mit den Mitteln des Geistigen der Form.«(19)

Zweifellos bilden mindestens drei(20) der achtzehn Bühnenwerke des mit Vorliebe in Italien weilenden, kosmopolitischen Wagner-Sohns und Liszt-Enkels eine sehr individuelle Schiene der deutschen veristischen Oper. Auf solche Weise finden sich Spuren des Verismo, die von Wagner d.Ä. über Leoncavallo in diverse veristische Opern flossen, bei Wagner d.J. wieder – von Wagner kommend, zu Wagner kehrend.


Peter P. Pachl


Quelle: Mitteilungsblätter der Internationalen Siegfried Wagner Gesellschaft e.V., Bayreuth, XXXIII 2004 (mit freundlicher Genehmigung des Autors)

 

 
Anmerkungen

  1. Riemann Musiklexikon, Sachteil, Mainz 1967, S.1022
  2. Den heute gern als Tetralogie eingestuften »Ring des Nibelungen« nennt der Komponist ein  »Bühnenfestspiel für drei Tage und einen Vorabend«.
  3. Bei seinem Bayreuth-Besuch im Juli 1894 schloss Ruggiero Leoncavallo Freundschaft mit dem Bayreuther musikalischen Assistenten, dem inzwischen mit der Oper »Hänsel und Gretel« erfolgreichen Engelbert Humperdinck.
  4. Teresa Lorario,  Ruggiero Loencavallo e il soggetto dei »Pagliazzi«, in: Chigiana 26/27 1971, und Marco Vallora, Plagi, sipiari, pagliazzi, in: G.Aulenti, M.Vallora, Quartetto della Maledizione, Mailand 1985, S.71–92
  5. Richard Wagner, Mein Leben, München 1963, S.144f.
  6. Richard Wagner, »Die Meistersinger von Nürnberg«, in: Sämtliche Werke, Bd.9,II, Mainz 1983, S.154ff
  7. Vgl. den Umbruch von Komik zu Tragik in Leoncavallos »La Bohème« (1897): mit ihrem dritten Akt schlägt die Komödie abrupt in die Tragödie um, während vorher zwei Akte lang textlich und musikalisch der äußere Schein einer musikalischen Komödie erzielt wird.
  8. Denn der Mythos ist auch Gegenwart, die Handlungen des Verismo spielen nur in der Gegenwart.
  9. Richard Wagner, »Parsifal«, in: Sämtliche Werke, Bd.14,I, Mainz 1972, S.44
  10. Einhard Luther im Programmheft zur konzertanten Wiederaufführung der Oper, Berlin 1987
  11. Zur Deutung des »Parsifal« als Künstleroper vgl. Walter Keller, Von »Robert der Teufel« zum »Parsifal«, in: Parsifal-Variationen, Tutzing 1979, S.81ff.
  12. Die Fabel von dem Fliegenden Holländer. In: Aus den Memoiren des Herrn von Schnabelewopski, VII. Kapitel. Der Salon, Bd.1
  13. Vgl. Paul Bekker/Franz Schreker, Briefwechsel, mit sämtlichen Kritiken Bekkers über Schreker hrsg. von Christopher Hailey, Aachen 1994
  14. Pietro Mascagni in einem Interview 1910: »Verismo tötet die Musik. Nur in der Poesie, im Romantischen, kann die Inspiration ihre Flügel entfalten.« (Zitiert nach Rein A. Zondergeld, Mascagnis Isabeau, in Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, München 1989, S.719) 
  15. Siegfried Wagner, der friedensengel, Orchester-Partitur, Bayreuth 1916
  16. Die hier exerzierte Phrenologie geht zurück auf den deutschen Arzt und Schädelforscher Franz Gall, der von 1758 bis 1828 lebte. Der ländliche Doctor im friedensengel, der nach Galls Erkenntnissen diagnostiziert, ist daher recte im 19., wenn nicht gar im frühen 20. Jahrhundert angesiedelt.
  17. Rein A. Zondergeld über Mascagni, a.a.O.
  18. Parallelen zu Gustav Mahlers Bach-Bearbeitungen sind naheliegend.
  19. Willy Hess, Die Dynamik der musikalischen Formbildung, Bd.2: Werkbetrachtungen, Zürich 1964
  20. der kobold, op.3, der heidenkönig, op.9, und der friedensengel, op.10

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