| Historie und Mythe des gebannten Dietrich Sagen und Märchen wirken wie alte Bilder, vom Firniß der Zeit überzogen, in großen Posen geronnen, immer noch leuchtend in ihren kräftigen Farben und Strichen. In der Bildergalerie der Geschichte hängen sie, mit wechselnden Rahmen versehen, als immer neu aufreizende Botschaften menschheitlicher Vergangenheit. Vor allem das Theater hat sich dieser Bilderwelten bemächtigt, sie zur lebendigen Szenerie verzaubert – die ungemein bildhafte Sprache der sagenhaften Überlieferung verwandelt sich in die sprach- und klanggewandte Optik der theatralischen Handlung; aus den alten Rahmen treten lebensvolle Gestalten hervor, unter der alten Firniß, ja hinter der bemalten Leinwand, beginnt die eigentliche Reanimation, die gespielte Gegenwart der ins Bild gesetzten Vergangenheit; durch das alte Gemälde hindurch öffnet sich der Blick auf ein atemberaubend phantastisches Spiel, das aus dem bloßen Beschauer einen Betroffenen macht.
Es ist ein Vorgang, wie ihn die dramatische Kunst seit Jahrtausenden realisiert, seit Aischylos, Sophokles, Euripides, seit Shakespeare, Goethe, Schiller, seit Monteverdi, Gluck, Wagner, seit Brecht, Beckett, Müller, seit Schönberg, Strawinsky, Zimmermann.
Eine der ältesten deutschen Dichtungen, die uns überliefert wurde, ist das im 9. Jahrhundert aufgezeichnete »Hildebrandlied«, berichtend von historischen Ereignissen aus dem 6. Jahrhundert, der Zeit der Völkerwanderung, der Zeit von Kriegen und Eroberungen, von existentiellen Erschütterungen, von menschlicher Größe und menschlichem Leid. Es erzählt von Hildebrand, dem Kampfgenossen des Dietrich von Bern und Vater des Hadubrand. Mit diesem, der im Heerlager des gegnerischen Odoaker steht, muss er einen Zweikampf führen, und Hadubrand spricht zu ihm: Das berichten mir unsere Leute, alte und weise, die ehrhin lebten, dass Hildebrand mein Vater hieße, ich heiße Hadubrand. Vormals ging er nach Osten, er floh vor Odoakers Haß hin mit Dietrich und vielen seiner Degen. Er ließ im Lande die Kleine sitzen, die junge Frau im Hause, das Kind unerwachsen, ohne Erbe: er ritt nach Osten hin. Daher begannen seitdem für Dietrich die Entbehrungen meines Vaters: das war ein so freudloser Mann. Er war dem Odoaker maßlos zornig, der liebste der Degen bei Dietrich. Er war immer an der Spitze des Kriegsvolkes, ihm war immer der Kampf allzu lieb.
Hadubrands Rede klingt wie ein Prolog zu Siegfried Wagners Banadietrich. Genau beschreibt er jene Situation, die den Ausgangspunkt der Opernhandlung markiert. Hildebrand ist Gefolgsmann Dietrichs, der, mit König Etzel (Attila) verbündet, gegen den Gotenkönig Ermenrich (Ermanarich) kämpft. (Der Austausch Odoakers gegen Ermanarich ist eine der Sagen-Varianten. Dietrich von Bern hingegen ist historisch belegt als König Theoderich der Große, der Ende des 6. Jahrhunderts Norditalien eroberte.)
Sagenhafte Überlieferungen haben aus Theoderich das Bild des Helden Dietrich von Bern gemacht. Die historische Figur wurde zur poetischen lkone. Die Sage wanderte nach Norden, und zunehmende Enthistorisierung bewirkte eine immer bunter werdende Bilderwelt von phantastischen Geschichten, die mehr oder weniger stringent miteinander verbunden sind. Der Ortsname Bern meint übrigens ursprünglich die von Theoderich heiß umkämpfte norditalienische Stadt Verona, wurde aber späterhin meist auf die heutige schweizerische Hauptstadt Bern bezogen und gilt gegenwärtiger Sagenforschung (unter Berufung auf die nordische »Thidrekssaga«) teilweise gar als Synonym für das rheinische Bonn. Das ist zwar ahistorisch, folgt aber der Logik der sich von der Geschichte gelöst habenden, jahrhundertelangen Wanderung des Sagenkreises gen Norden, wo er dann eine bemerkenswerte Verbindung mit der Siegfried- und Nibelungensage eingeht. Dabei erfuhren Dietrich, Siegfried und die Nibelungen auch ihre, sehr wohl widersprüchliche Einbindung in die christianisierte Geschichtendeutung.
Und so erlebt man Siegfried Wagners Titelgestalt – in ihrer Ungebärdigkeit durchaus heidnischen Ursprungs (auch in ihrer Liebesbeziehung zu dem Naturwesen Schwanweiß), läßt sie sich von Satan, dem Antichrist, zu unseligem Handeln verführen. Einige historische Motive wirken fort: so die Erwähnung der »Rabenschlacht« (Theoderichs Schlacht um Ravenna gegen Odoaker) oder die Figuren des Hunnenkönigs Etzel (mit dem Theoderich direkt allerdings nie in Verbindung stand) und Ermenrichs; Sagen- und Märchenhaftes tritt hinzu: etwa die Erwähnungen des Zwergenkönigs Laurin und seines Rosengartens (die sonnenbestrahlten rötlichen Felsen der Dolomiten) bzw. von Wieland, dem Schmied, weiterhin der Gottesfrevel und der Kirchenbann sowie das daraus resultierende Motiv des wilden Jägers oder die erst von Siegfried Wagner vorgenommene Einführung der Liebesgeschichte Dietrichs mit der Wasserjungfrau Schwanweiß. (Siegfried Wagner war, schon durch die Werke seines Vaters – etwa den nicht vertonten Operntext »Wieland der Schmied« oder »Lohengrin« und »Parsifal« –, auch durch die Beziehung seines Vaters zu dem schwanverehrenden Bayernkönig Ludwig II., magisch angezogen durch die nun tiefenpsychologisch begriffene, unheimliche Aura von Schwanenreichen, wie sie seit Urzeiten den Menschen ein mythisches Faszinosum waren; seine auf Banadietrich folgende Oper Schwarzschwanenreich weist das noch nachhaltiger aus.)
Bezeichnend für die »Nordwanderung« der Dietrichsage ist auch ihre Ansiedlung in germanisch-slawischen Mischräumen: Nordböhmen, Lausitz, Sachsen und Thüringen (bis in das Orla-Gebiet; auch der Ortsname Etzelbach – zwischen Rudolstadt und Orlamünde gelegen – könnte damit zusammenhängen). Hierher bezog Siegfried Wagner die Bezeichnung seines Titelhelden – Banadietrich, d.h. der gebannte Dietrich. Der Siegfried-Wagner-Biograph Carl Friedrich Glasenapp hat in seinem 1911 erschienenen Buch »Siegfried Wagner und seine Kunst« erstmals ausführlicher die entsprechenden sagenhaften Überlieferungen zusammengefaßt und dargestellt sowie nachgewiesen, dass der Komponist die direkte stoffliche Anregung zu seiner Oper aus diesem Bereich bezogen hat, es heißt bei Glasenapp u.a.: In der Sage vom wilden Jäger treffen Heldensage und Volksglauben noch bis zum heutigen Tage zusammen, indem seine … Gestalt in allen Teilen deutschen Landes, von der Donau bis zur Elbe und Weser, mit dem sagenberühmten Dietrich von Bern identifiziert ist, von dem, wie es in den Chroniken bis in das späteste Mittelalter heißt, »die Bauern singen und sagen«.
Im Orlagau, mitten im Herzen Deutschlands, heißt der wilde Jäger noch heute »Berndietrich« … In den Landesteilen mit slawisch gemischter deutscher Bevölkerung entwickelte sich … die Bezeichnung Bandietrich oder Pan Dietrich (Lausitz), oder Banadietrich (Böhmen) …
Eine viel ausführlichere Version dieser letzteren Sagenüberlieferung vom Banadietrich aus dem nördlichen Böhmen teilt Vernaleken … mit, wie sie in Warnsdorf u.a. Orten mündlich überliefert wird. Diese hat Siegfried Wagner als eigentliche Quelle seiner Dichtung vorgedruckt.
Historie und Sage, Heidnisches und Christliches, Menschenverachtung und Liebe, Untergang und Erlösung, Vergangenheit und Gegenwart – alles bündelt Siegfried Wagner unvoreingenommen in die Gestalt des Banadietrich, verleiht ihm auch durch den kunstvoll hintersinnigen »Seiteneinstieg« über die scheinbar so periphere slawisch-nordböhmische Sagenversion jene – von allem geschichtlichen und nationalen Heroismus bzw. aller mythisch aufbauschenden Germanisierung unbelastete – Leichtigkeit, die hinter der sagenhaften Bildgestalt die lebendige Psyche eines Menschen erkennen läßt, der an den unauflösbaren Widersprüchen seiner Zeit, einer Spät- und Umbruchszeit voller heilloser Illusion, erbarmungsloser Niederdrückung und bitterer Hoffnungslosigkeit, untergeht. Der Künstler Siegfried Wagner spiegelt seinen verlorenen Idealismus in der verlorenen Gestalt des Banadietrich. Sie ist ihm fern und nah, fremd und verwandt zugleich. Die alte Sage mutiert zur theatralischen Offenlegung der eigenen Befindlichkeit. Das Bild des einen ist das Abbild des anderen.
Das eigentliche Leben ist hinter den alten Bildern. Davon künden um so eindringlicher die neuen Bilderwelten der Jahrhundertwende, die seelischen Verzweiflungen, die tiefenpsychologische Metaphysis der Gemälde etwa eines Edward Munch oder, noch beziehungsreicher, eines Arnold Böcklin. Sie fangen Jenes ein, was die Sagen als Wahrhaftiges zu uns hertrugen: Geschichten von Menschen, entkleidet ihrer realitätsbezwungenen Konvention, in phantastisch lebendiger Bildfreiheit oder – wie es Banadietrich in der Schlußszene der Oper ausdrückt – in gewollter »Erblindung« gegenüber der »trügerischen Welt«, in der Ablehnung von gauklerischen Trugbildern, die Gegenwärtigkeit vortäuschen. Es ist eine gewiß wahnvolle Künstlerästhetik, die sich da in einem farbenreichen und fein ziselierten Klangspektrum kundgibt, aber doch eine in ihrem hoffnungslosen Illusionismus ungemein aufrichtige.
Der Ausgang der Dietrichsage ist in Dunkel gehüllt, nicht zu erkennen, nicht in ein Bild, in ein Sichtbares zu fassen – so wie es am Ende der von Siegfried Wagner als Vorlage genutzten nordböhmischen Sagenversion bezeichnend heißt: »Das Auge vermag nichts in der undurchdringlichen Finsternis zu erspähen.« Dem reinen Beschauer bleibt nichts, nur der Betroffene kann Weiteres erspüren. Das sagenhafte Bild ist der lebendigen, ganz heutigen Tragödie gewichen. Gibt diese, nun neu gerahmt, ein Bild von Neuem? Eckart Kröplin
Quelle: Programmheft Festspiele Rudolstadt 1995 (mit freundlicher Genehmigung des Autors)
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