| Schwarze und weiße SchwäneSchon in mythischen Vorzeiten galt der Schwan als besondere Symbolfigur menschlichen Weltbegreifens. Seit über 2000 Jahren ist er beispielsweise in der Vorstellungswelt Chinas, Japans, Persiens und Indiens präsent und hat dort in Literatur und Kunst deutliche Spuren hinterlassen. In der Antike wurde der Schwan als heiliger Vogel des Apollo verehrt. Er sollte die Gabe besitzen, den Tod anzukündigen; und man sprach ihm die Fähigkeit des Wahrsagens zu. Etymologisch hängt die deutsche Bezeichnung Schwan auch mit der Musik zusammen; die althochdeutsche Form »swan« ist verwandt mit dem lateinischen »sonare« (tönen) – und das rührt wohl wieder her von dem sprichwörtlichen »Schwanengesang«, den sterbende Schwäne anstimmen können. Die germanische und altnordische Sagen- und Märchenwelt kennt die Schwanenjungfrauen, jene halbgöttlichen Frauengestalten im Federkleid, das sie nächtens beim Baden ablegen. Raubt ein Mann das Federkleid, so muss die Betroffene ihm folgen. Im »Völundlied« der »Edda«, im mittelalterlichen »Nibelungenlied« und in der »Gudrun«-Sage begegnet man mehrfach weissagenden Schwanenjungfrauen. Die »Lohengrin«-Sage berichtet von jenem tugendhaften und wundertätien »Schwanritter«, dem Beschützer der Verfolgten und Bedrängten, der von einem Schwan in einem Boot gezogen über das Meer daherkommt. Als Schwäne – schwarze und weiße – verzauberte Mädchen und Knaben trifft man auch in der Märchenwelt des 19. Jahrhunderts, bei den Brüdern Grimm oder bei Ludwig Bechstein und Hans Christian Andersen, häufiger an. Das strahlende Weiß des Federkleids der Schwäne ist es, das sie im Volksglauben zum Symbolträger von Reinheit, Unschuld und Weisheit werden läßt. Ganz im Gegensatz dazu gilt der schwarze Schwan als dämonisch unheimlich, als Synonym von Wollust und teuflischer Buhlerei. Siegfried Wagner kennt in seinem Opernwerk beide Schwanenreiche, das weiße und das Schwarze. In Banadietrich (uraufgeführt 1910 in Karlsruhe) heißt die weibliche Hauptfigur Schwanweiß, es ist eine Nixe, eine unglückliche Liebe verbindet sie mit Dietrich von Bern, eine Liebe, die ihre eigentliche Erfüllung erst außerhalb der friedlosen Welt, im Wasserreich der Schwäne finden kann. In der nächsten Oper, Schwarzschwanenreich (entstanden 1910, uraufgeführt 1918 gleichfalls in Karlsruhe) zerbrechen wiederum Krieg und Mißgunst die Liebe zweier Menschen. Ein junges Mädchen, eine Fremde, wird von ihrer Umwelt ob ihrer Andersartigkeit beargwöhnt, schließlich als Kindsmörderin verfolgt, gefoltert und hingerichtet. In Parenthese: Die »Kindsmörderin« ist in der Kunst seit dem ausgehenden Mittelalter als Motiv geläufig. 1776 veröffentlicht Heinrich Leopold Wagner sein Drama »Die Kindsmörderin«, die Gretchentragödie in Goethes »Faust« führt das Thema in die Weltliteratur – der Dichter war übrigens voller Entsetzen dazu angeregt worden auch durch die Hinrichtung der des Kindesmords für schuldig befundenen Frankfurter Gastwirtstochter Susanna Margaretha Brandt am 14. Januar 1772; mit Louis Spohr, Hector Berlioz, Charles Gounod, Arrigo Boito und, in unserem Jahrhundert, Leos Janácek (»Jenufa«), Ferruccio Busoni oder Hermann Reutter wird die bewegende Geschichte in vielfältiger Variation in die Opernwelt übernommen; und Hebbels »Maria Magdalena« oder Hauptmanns »Rose Bernd« beispielsweise setzen die Linie im Schauspiel fort. Dem Mädchen Linda (so die Bezeichnung der Partie der Hulda in Siegfried Wagners erstem Textentwurf), umhergeworfen in den Kriegswirren der Zeit, wird vorgehalten, den Verführungen des Schwarzschwanenreichs erlegen zu sein, ein Kind geboren und umgebracht zu haben. Das den Menschen so unheimliche und doch so verlockende Reich der schwarzen Schwäne wird dämonisiert, verteufelt und mit ihm auch Linda. Siegfried Wagner hat eine tiefe biographische, ja psychologische Beziehung zu Schwanenreichen. Aus den Werken seines Vaters ist er mit ihnen vertraut. Er denkt wohl an »Wieland, den Schmied«, der eine Schwanjungfrau liebt, er weiß um die symbolträchtige Rolle des Schwanenmotivs im »Parsifal«, er kennt die Geschichte des Schwanritters »Lohengrin«, und bekannt sind ihm die romantischen Kunstwelten jener glücklich-unglücklichen Wasserwesen – auch Undine, Melusine oder Russalka genannt –, die Opern- und Ballettszene des 19. Jahrhunderts liefert zahllose Beispiele: »Undine« von E.T.A. Hoffmann oder Albert Lortzing bis hin in unserer Zeit zu Hans Werner Henze, »Melusine« von Konradin Kreutzer und vor wenigen Jahren noch von Aribert Reimann, »Russalka« von Alexander Dargomyshski und Antonin Dvorák, schließlich Peter Tschaikowskis »Schwanensee« mit Prinz Siegfried und dem schwarzen und dem weißen Schwan. Eine Gelegenheitskomposition Richard Wagners für Klavier vom Juli 1861 trägt den Titel »Ankunft bei den schwarzen Schwänen«, gerne beobachtete der Komponist damals im Pariser Park der Tuilerien, so berichtet er in seiner Autobiographie, »zwei schwarze Schwäne, zu denen ich mich mit träumerischer Neigung hingezogen fühlte«. Jahre danach haben seine Frau Cosima und er ein merkwürdiges Schwanen-Traumerlebnis, von dem Cosima in ihren Tagebüchem berichtet: »R. (= Richard) träumte, ich sei erbittert, ihm entfremdet, ich träumte von einem Kampf zwischen Schwänen und Hunden, in welchem R. … in das Wasser gezogen, sogleich aber wieder daraus erstand.« Und nur wenige Wochen später notiert Cosima quasi die Fortsetzung: »Er (= Richard) hatte heute … einen traurigen Traum; es sang jemand auf dem Wasser … da näherten wir uns, und es war Fidi (= Sohn Siegfried), der singend versank und uns sagte: Adieu Papa, Adieu Marna!« Auch Sohn Siegfried hat, als Kind schon, ein ihn offensichtlich nachhaltig beeindruckendes Schwarzschwan-Erlebnis. Sein Freund und künstlerischer Weggefährte, der Maler Franz Stassen, erzählt darüber: »Das war auch solche dunkle Wunderblume, deren Keim dem Knaben im Herzen schlummerte seit den Tagen, als König Ludwig dem Meister die schwarzen Schwäne schenkte, vor denen Siegfried ahnend stand, wenn sie auf dem Weiher im Hofgarten umherschwammen.« Im Text der Oper heißt es denn auch geheimnisvoll-unheimlich: Nicht fern von hier, im Forstbereich, In dunkler Stille liegt ein Teich … Des Todes Hauch hat ihn erstarrt. Nur hier und da, als einz'ges Leben, Schwarze Schwäne drüber schweben. Gleiten hin und sinken nieder, Grabes Stille waltet wieder. Sahst du je einen schwarzen Schwan? Anders, als seine weißen Brüder Regt er zaubrisch seine Glieder. Was man sagt, es ist kein Wahn, Es sei dies nicht wirklich ein Tier: Verführer sei'n es, Satans Begleiter. Des Abends nahen sie als Reiter Und holen sich die Maid zur Lust … Dem nächtlichen Bund, von Gott verflucht, Entkeimt der Hölle verderbliche Frucht.
Der lang schon legendenumwobene König Ludwig II. von Bayern (1845 – 1886), Freund und Förderer Richard Wagners (er war es, wie oben beschrieben, der Wagner die schwarzen Schwäne schenkte), rätselhaften Tod schließlich in den Wassern des Starnberger Sees findend, lebte ein von der Welt merkwürdig abgehobenes Traumleben, zu dem als signifikante Orte die Schlösser Hohenschwangau (mit dem »Schwanrittersaal«) und Neuschwanstein (hier wurde der König 1886 gefangengenommen und dann unter dem Vorwand der Geistesgestörtheit nach Schloß Berg am Starnberger See verbracht) gehörten; beide Schlösser sind im Bildschmuck reichhaltig mit Darstellungen aus der Welt der Schwanenmythen ausgestaltet – Wagner hat diese Ludwigsche Traumwelt erlebt, sein Sohn Siegfried wußte um sie. Ludwig also – ein unglücklicher Märchenprinz zwischen den Reichen von schwarzen und weißen Schwänen, eine durchaus deutsche, eine tragische Figur; Ludwig – der sich selbst als Schwanritter sah, als Beschützer von Bedrängten und als Bewahrer einer doch längst verlorenen gesellschaftlichen Harmonie; Ludwig – so heißt daher auch in Siegfried Wagners erstem Textentwurf von Schwarzschwanenreich die männliche Hauptfigur. Schwarzschwanenreich – eine traurige und bitterböse Geschichte. Sie geleitet – unfreiwillig sicher, aber wohl folgerichtig (dem Autor »schwant« großes Unheil) – das deutsche Kaiserreich in den Weltkrieg, in die Katastrophe; die Uraufführung der Oper am 5. November 1918 bedeutet eine letzte höfische Festlichkeit; vier Tage später, am 9. November, bricht die deutsche Revolution aus, stürzt das Kaiserreich. Es stürzt eine Welt zusammen, der Siegfried Wagner zutiefst verhaftet war und der er doch in Schwarzschwanenreich nur eine beklemmende Spiegelung angedeihen lassen konnte. Siegfried Wagners liberal-konservatives Weltbild hatte keine Geltung mehr, und verbittert resümierte er: »Ich schäme mich, ein Deutscher zu sein! … O Beschissenheit! Dein Name ist Deutschland!« Schwarzschwanenreich – ein deutsches Menetekel; Handlung und Musik dieses Werkes waren und sind Deutschland, das kaiserliche und das demokratische, das faschistische und das sozialistische, das heutige auch; umhergestoßen, bedrängt, verfolgt, getötet die Lindas und Ludwigs in ihm; und wieder und wieder der deutsche Siegfried – verwirrt, verführt, verirrt. Eckart Kröplin
Quelle: Programmheft Festspiele Rudolstadt 1994 (mit freundlicher Genehmigung des Autors)
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