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Ihr Weg hierher: / Clement Harris – der englische Pianist und Komponist bei den Bayreuther Festspielen 1891

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Der Pianist und Komponist bei den Festspielen 1891

Im Juli 2021 gedenken Musikfreunde in London, Frankfurt, Heidelberg und Athen des 150. Geburtstages von Clement Harris – Bayreuth feierte diesen besonderen Geburtstag (zwei Jahre nach dem 150. von Siegfried Wagner) sogar mit einem Klavier-Konzert bei Steingraeber & Söhne. Was den zwanzigjährigen Künstler mit den Wagners und dem Grünen Hügel verband? Hier kommt die Geschichte dazu:
 
Im Alter von sechzehn Jahren entschied sich Clement Harris endgültig für das Klavier, es wurde (nach der Geige) das Instrument seines Lebens. Wenn er Konzertpianist werden wollte, so war die Überlegung seiner wohlhabenden Londoner Familie, die eine internationale Reederei besaß, gab es in Deutschland eine Legende, die Garantin für eine große Karriere war: Clara Schumann. Die Witwe des Komponisten Robert Schumann, selbst eine phänomenale Pianistin, leitete die Meisterklasse am Hoch'schen Konservatorium in Frankfurt am Main. Bei ihr angenommen zu werden, war wie ein musikalischer Ritterschlag. Im Herbst 1887 machte sich der ehrgeizige junge Mann auf den Weg, erlernte die deutsche Sprache (mit hessischem Einschlag und britischem Akzent) und übte zwei Jahre intensiv, um im Sommer 1889 bei Frau Schumann aufgenommen zu werden. Durch seine Eltern hatte er bereits Oscar Wilde und dessen Ehefrau Constance kennengelernt und gehörte zum Freundeskreis des gefeierten Literaturstars, durch englische Kontakte fand er in der Main-Metropole sehr schnell Aufnahme in aristokratische Kreise (Töchter von Queen Victoria waren in deutsche Fürstentümer und ins kaiserliche Berlin verheiratet worden) sowie in den künstlerischen Salon im Hause Edward Speyer.
 
Dort verkehrten neben Clara Schumann, Johannes Brahms, dem Maler Hans Thoma u. a. auch Daniela und Dr. Henry Thode. Daniela war die älteste Tochter Cosima Wagners aus der Ehe mit dem Dirigenten Hans von Bülow, sie sah sich vor allem als Enkelin von Franz Liszt, spielte selbst sehr gut Klavier und war mit einem erfolgreichen Kunsthistoriker verheiratet, der zum Direktor des Städel'schen Museums berufen wurde und wenig später eine Professur an der Heidelberger Universität wahrnahm.
 
Noch ein Name spielt eine wesentliche Rolle. Wir gedenken 2021 seines hundertsten Todestages (im September): Engelbert Humperdinck. Der »Parsifal«-Assistent Richard Wagners befand sich noch in einer Situation vor seinem Welterfolg »Hänsel und Gretel« und verdiente seinen Lebensunterhalt als Lektor für den Verlag Schott in Mainz und als Dozent am Hoch'schen Konservatorium. Cosima bat »das Hümpchen«, sich um ihren Sohn Siegfried zu kümmern und ihm die Grundlagen für eine mögliche Musiker-Existenz zu vermitteln. Der Wahnfried-Erbe hatte sich jedoch noch längst nicht für das Festspieltheater auf dem Hügel entschieden. Vorrangig studierte er zu jener Zeit Architektur und Technik. Aber er pendelte häufig zwischen Karlsruhe, wo der Dirigent Felix Mottl als Generalmusikdirektor die Oper prägte und Frankfurt häufig hin und her und hatte zu seiner Halbschwester und seinem Schwager eine durchaus enge Beziehung. Und so lernten sie sich kennen, der eine 18, der andere 20, im Hause Speyer. Clement, der seit 1889 Tagebuch führte, notierte zu ihrer ersten Begegnung, wobei er, wie viele Frankfurter Studenten, von Richard Wagner als dem »Riesen« sprach:
 

    Der Sohn des Riesen war auch da. Wir hatten ein langes Gespräch über Wagner. Er sieht seinem Vater sehr ähnlich, hat aber einen weniger mächtigen Kopf!
     

In den Jahren 1890 bis 1892 hatten die Freunde intensiven Kontakt, was schließlich dazu führte, dass Clement Harris die Familie Wagner in den Sommerwochen 1891 besuchte. Starkes Konfliktpotential bot seit langem seine Begeisterung für Richard Wagner, vor allem mit Clara Schumann, die das Werk des Bayreuther Meisters ablehnte und nur boshafte Kommentare gerade zu Clements Lieblingsoper »Tristan und Isolde« lieferte. Diese grundsätzliche Meinungsverschiedenheit führte schließlich dazu, dass sich der junge Pianist im Dezember 1891, nach seinem Bayreuth-Aufenthalt, aus der Meisterklasse verabschiedete und sich von seiner Lehrerin trennte. Wie stark seine Begeisterung für Wagner war, lässt sich angesichts eines Tagebuch-Eintrags vom 8. Juli 1890, seinem 19. Geburtstag ermessen:
 

    Es gibt nur einen, den ich wage, zum Vorbild meiner Wünsche zu erheben. Ihn, der zwanzigmal mehr gelitten hat als ich: Ihn, der in Kunst und Leben die Philister und Ungläubigen bekämpfte und zuletzt den Sieg errang: Er sei mein Leitstern, der Leuchtturm in brandender See und ein Hafen, in dem ich ankern kann. O könnte ich doch alle Gegner von der Echtheit und gigantischen Größe des Meisters überzeugen.
     

Kein Wunder, dass er bei solch großem Enthusiasmus in Wahnfried mit offenen Armen empfangen wurde. Er war zwanzig geworden, ein charmanter Jüngling mit ausgesprochen guten Manieren aus priviligierten Verhältnissen, ein talentierter Musiker, der fließend Englisch, Deutsch und Französisch sprach und für das Werk Wagners leidenschaftlich eintrat – Cosima spannte ihn sogleich für ihre Zwecke ein, indem sie ihn bat, die Festspielleitung zu unterstützen, indem er die »fremdsprachige Korrespondenz« erledigte und besondere Festspielgäste aus dem Ausland betreute.
 
Die Festspiele 1891 brachten drei Werke zur Aufführung: den »Parsifal« in der Uraufführungs-Inszenierung, den »Tristan« in der Produktion von 1886, dem Todesjahr von Franz Liszt, mit Felix Mottl am Pult und als neue Produktion erstmals »Tannhäuser« in einer neuen Regie von Cosima Wagner. Sie entschied sich gegen alle Widerstände für die romantische Oper, trieb ihr allerdings das »Opernhafte« aus und machte aus dem drängenden jungen Wagner ein Hügel-Festspiel, womit sie den »Tannhäuser« wahrscheinlich vergewaltigte.
 
Die Schwester von Clement reiste extra aus England an, sah die Aufführung und war wenig beeindruckt, was ihn entsetzte: Statt sich mit Wagner zu beschäftigen und dem »Werk« nachzuspüren, las sie angeblich Schundromane. Ein berühmter Festspielgast 1891 hingegen war der begeisterte Mark Twain, der vorher schon in Mannheim mit dem »Lohengrin« seine erste Wagner-Erfahrung gemacht hatte. Nun erlebte der prominente Autor auf dem Hügel »Parsifal« und »Tannhäuser«, seine ganz persönliche Lieblingsoper. Ob ihn Clement wohl damals kennenlernte und betreute? Der Schöpfer von »Tom Sawyer und Huckleberry Finn« kam jedenfalls in Bayreuth zur Erkenntnis, dass die Wagner-Musik wohl besser sei, als sie klingt. Er schrieb unter anderem:
 

    Musik, die einen dazu veranlasst, den Stab zu ergreifen und seinen Weg um den halben Globus herumzubetteln, um sie zu hören …
     

Clement Harris hätte ihm sicherlich zugestimmt. Denn auch er erlebte seinen Favoriten, die Oper  »Tristan« und notierte im Tagebuch seine Eindrücke. Unter anderem ist zu lesen:
 

    Glücklicherweise saß ich die ganze Zeit in der Familienloge, denn während des letzten Aktes war ich viel zu aufgeregt und völlig zermürbt. Ich gebe zu: Ich schluchzte wie ein Kind!
     

Bei allen Einflüssen stellte er an anderer Stelle klar:
 

    Frau Wagner ist eine ungewöhnliche Frau von starker Faszination. An der Judenhatz beteiligte ich mich in keinem Moment …
     

Clement Harris erhielt von seinen Eltern als Geschenk zum 21. Geburtstag eine Reise um die halbe Welt. Im November 1891 traf ein Brief in Wahnfried ein, worin er Siegfrieds Mutter darum bat, ihr Sohn dürfe ihn als sein Reisegefährte begleiten. Auch wenn Cosimas erster Impuls gewesen sein mag, dem Wahnfried-Erben diese Zustimmung zu verweigern, musste sie doch einsehen, dass Siegfried die Aussicht auf die Reise »wie eine Befreiung« empfand. Ihre Ängste überwindend, ließ sie ihn im Februar 1892 ziehen.
 
Siegfrieds Herz gehörte noch der Architektur – durch das Vorbild Clements, der eifrig komponierte und Klavier spielte und motiviert von dessen Begeisterung für die Musik, entschied sich der Wagner-Spross dazu, seine bisherigen Pläne aufzugeben, die Karriere eines Profi-Musikers anzustreben und ebenfalls als Komponist zu wirken. Während der gemeinsamen Zeit auf verschiedenen Schiffen der Harris-Reederei entstanden die Entwürfe zu ihren symphonischen Erstlingen, die 1895 in zeitlicher Nähe uraufgeführt wurden. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass es auch dem Einfluss von Clement Harris zu verdanken ist, dass Siegfried sein Bayreuther Erbe akzeptierte. Der Brite, der seine Studien in Heidelberg fortsetzte und bis 1896 als Pianist, Arrangeur und erfolgreicher Komponist auf sich aufmerksam machen konnte, engagierte sich für sein Sehnsuchtsland und fiel mit 25 Jahren als freiwilliger Kämpfer bei der Bergfestung Pente Pigadia (Fünf Brunnen) in Griechenland. Das war am 23. April 1897. Er sah sich weder als Held noch als Opfer. Vielmehr setzte er aus innerster Überzeugung, der an die Zukunft Hellas glaubte, sein Leben aufs Spiel. Ein großes Talent ging der Musikwelt dadurch verloren.
 
Er hinterließ Konzert-Etueden, Kammermusik, Lieder und zwei Orchesterwerke sowie Tagebuch-Aufzeichnungen, die in den 1950ziger Jahren wiederentdeckt wurden. Seine Musik ist auf zwei CD-Einspielungen vertreten und ebenso bemerkenswert wie sein Schicksal. Siegfried porträtierte die Kompromisslosigkeit und Durchsetzungsfähigkeit eines echten Idealisten in zahlreichen Gesangspartien seiner »Opernhelden«. Die Jugendfreunde, die vielleicht mehr als eine musikalische Liaison verband, blieben über Jahre in engem brieflichem Kontakt, auch wenn sie ihre beruflichen Ambitionen räumlich trennte. Letztmals kehrte Clement im Sommer 1896 auf den Hügel zurück, als Freund Siegfried erstmals einen kompletten »Ring«-Zyklus dirigierte. Die Briefe wurden von der Witwe Winifred Wagner entweder vernichtet oder weggesperrt, sie sind jedenfalls nicht zugänglich … 
 
Schopenhauer blieb ihm als die Lektüre seines Lebens ebenso dauerhaft präsent wie das Werk Goethes, die Literatur seines guten Bekannten Oscar Wilde oder eben Wagners »Tristan«, für den er seit seiner Frankfurter Studienzeit immer wieder bewundernde Formulierungen fand:
 

    O Tristan, Tristan! Was für eine großartige Schöpfung du bist. Ich war völlig erschlagen nach der Aufführung, die mit Abstand die beste war, die ich von irgendeinem der Werke gesehen habe. Wie verschlingen sich hier Gedankentiefe und besessene Ekstase, und wie abgerundet und präzise ist dabei das Ganze: Ein gefasster Edelstein, der im Dunkeln blitzt. Ein geheimnisvolles Gruselmärchen mit einem strahlenden und zugleich grässlichen Ende. Worte können nicht schildern, wie der erste Eindruck auf mich war. Ich bin überwältigt vom kolossalen Ausmaß des Ganzen …
     

Claus J. Frankl

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