| Schuld und MissbrauchNach einem bekannten Bonmot soll die Handlung von Siegfried Wagners Der Kobold in puncto Unverständlichkeit noch den Troubadour in den Schatten stellen. In der Tat bereitet die Tiefenstruktur des Kobold manches Kopfzerbrechen, weil Siegfried hier zwei Lieblingsthemen seines Vaters Richard in einer wohl nur biografisch und tiefenpsychologisch entschlüsselbaren Weise aufgegriffen und abgewandelt hat: Die Paradoxie des »schuldlos Schuldigwerden« und die Tilgung der eigenen oder fremden Schuld durch freiwillige Selbstaufopferung als Sühne – das ist eine dominierende Obsession in fast allen Opern und Musikdramen Richard Wagners vom »Fliegenden Holländer« bis zum »Parsifal«, und auch Siegfried kommt Zeit seines Lebens nicht von ihr los, sie begleitet ihn im Flüchlein, das jeder mitbekam sogar bis zum Grabesrand.
Straftat als Ursprung
Hinsichtlich des Ursprunges der Schuld weicht der Sohn freilich vom Vater ab, denn während dieser auf den Mythos zurückgreift, wurzelt die Urschuld beim »Kobold« in einer Straftat am Kind, der dann im Verlauf der Handlung eine Reihe weiterer Straftaten an die Seite tritt. Es geht um das von Siegfried zum Archetypus erhobene Delikt der Kindstötung, deren grausames Detail – das Zerschneiden der Brust des Neugeborenen mit zwei Messern – auf der Oberflächenstruktur durch Siegfrieds Traumatisierung vermöge der von ihm auf seiner Asienreise erlebten Zerstückelung einer Kindsmörderin erklärt werden könnte, die das Messer zum beherrschenden Requisit der ganzen Oper avancieren lässt (der Graf wird von Verena mit Messerstichen lebensgefährlich verletzt, und Verena selbst fängt den auf Friedrich gezielten Messerstich mit ihrem Leib und Leben ab). Sieht man darin – wie in der vorliegenden Inszenierung – in der Tiefenstruktur die Versinnbildlichung der (sexuellen) Verbrechen der Erwachsenen am Kinde, so verschlüsselt der nachfolgend juristisch zu subsumierende Vordergrund der Handlung geradezu eine Phantasmagorie des Kindesmissbrauchs, der das Opfer in den Selbstmord treibt. |
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Zuchthaus statt Todesstrafe
Die Kindstötung wurde zu der Zeit, als die Handlung spielt, also zu Beginn des 19. Jahrhunderts, nach dem von dem berühmtesten deutschen Strafrechtstheoretiker Paul Johann Anselm von Feuerbach geschaffenen Bayerischen Strafgesetzbuch von 1813 mit Zuchthaus auf unbestimmte Zeit belegt (zu Zeiten Goethes, der sich durch die Hinrichtung der Kindsmörderin Margaretha Brandt zur Geschichte seines Faust I inspirieren ließ, stand darauf noch die Todesstrafe). Obwohl auf den von Verena begangenen Hausfriedensbruch durch Eindringen in das umfriedete gräfliche Besitztum nach dem Bayer. StGB nur vierzehntägiges bis dreimonatliches Gefängnis stand, fordert der Graf statt dessen als »süße Strafe« den Geschlechtsverkehr, was zu Zeiten der gräflichen Patrimonialgerichtsbarkeit eine Rechtsbeugung bedeutet hätte, in den Zeiten Napoleons (nach Einführung des Monopols der staatlichen Justiz) aber nur noch eine versuchte Nötigung: Er droht offensichtlich mit der Veranlassung eines Strafverfahrens, was an sich zwar ein (weil Verena ja tatsächlich einen Hausfriedensbruch begangen hat) erlaubtes Übel, aber gleichwohl verwerflich und deshalb strafbar ist, weil es an der sog. Konnexität zwischen dem Inhalt der Drohung (dem Strafverfahren) und ihrem Zweck (dem Geschlechtsverkehr) fehlt. Freilich bleibt die Tat im Versuch stecken, weil Verena der Drohung widersteht, aber der Graf legt daraufhin nach in Gestalt der (trotz des »entsetzlich verwahrlosten Zustandes« von Verena wohl nur versuchten) Vergewaltigung, die übrigens zu Feuerbachs Zeiten mit einer Strafe von Arbeitshaus auf vier bis acht Jahre, verbunden mit jährlicher körperlicher Züchtigung und einsamer Einsperrung in das Zuchtgefängnis, bedroht war. |
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Juristisch komplexe Materie
Während der versuchte Ehebruch des Grafen nach damaligem Recht straflos war (wie heutzutage überhaupt; das gilt übrigens auch für den Verführungsversuch der Gräfin gegenüber Friedrich), kommt der Graf nach seiner lebensgefährlichen Verletzung erneut mit dem Strafgesetzbuch in Konflikt, indem er Trutz verleumdet, einen besonders schweren Raub mit Waffen begangen zu haben (ebenso übrigens auch das Verhaltensmuster der von Friedrich verschmähten Gräfin - das von Siegfried Wagner komponierte Motiv der Adels-Verlotterung trifft eben auf beide gleichermaßen zu). Die Weiterentwicklung wird dann juristisch so kompliziert, dass mancher Student noch im vorgerückten Semester an der Lösung des Falles scheitern würde: Weil Knorz und die anderen drei Domestiken des Grafen den vermeintlichen Räuber Trutz wieder einzufangen versuchen und hierbei ein Recht zur vorläufigen Festnahme auszuüben wähnen, ist der Graf an sich mittelbarer Täter ihrer Handlungen. Sie sind des Grafen Werkzeuge, die dann aber einen sog. Exzess begehen, als sie aus Feigheit gleich zum Mittel der Brandstiftung (mit eingeschlossenem Mordversuch) übergehen. Beides im Erfolgsfalle damals todeswürdige Verbrechen. Und die allerletzte strafrechtsdogmatische Finesse findet sich bei dem mit Tötungsvorsatz ausgeführten Messerstich von Knorz auf Friedrich, der die dazwischen springende Verena trifft. Dies wird von den Strafrechtswissenschaftlern eine aberratio ictus genannt und wird normalerweise nur als eine versuchte Tötung am angezielten Opfer in Verbindung mit einer fahrlässigen Tötung des tatsächlich getroffenen Opfers dargestellt. Weil Knorz dann aber nochmals eigens auf Verena einstößt (laut eigener Aussage als Vergeltung für den »Meineid«, der natürlich keiner ist, weil ein Meineid nur vor einem Richter geleistet werden kann), ist er im Endeffekt auch wegen eines vorsätzlichen Totschlages an Verena strafbar. |
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Missbrauch der Macht
Wenn man von den angedeuteten Tiefenstrukturen der Handlung absieht, wäre der Kobold also eine richtige Räuberpistole, nicht zuletzt auch wegen der volkstümlichen Biederkeit, welche die Sprachstruktur des ganzen Werkes auszeichnet. Die zentralen Motive von Vater Richard und Sohn Siegfried Wagner stimmten dann in erstaunlicher Weise überein, nur die Einkleidung hätte gewechselt: vom Mythos zum Kriminalroman. Sobald man diese Oberfläche dekonstruiert, wozu auch die alles andere als biedere musikalische Struktur des Werkes auffordert, stößt man aber auf geradezu bestürzende kriminologische Manifestationen des Kindesmissbrauchs durch den guten Onkel, der (so Ekhart in scheinbarer, gleisnerischer Güte) das Kind mit Spukgeschichten erschrickt und mit Tandgeschenken (dem Glitzerstein) verführt oder (so der Graf) durch Strafdrohungen anlässlich nichtigster Verfehlungen gefügig macht. Wenn man in dieser Perspektive den Kobold vom Kopf auf die Füße stellt, zeigt uns Siegfried Wagners dritte Oper plötzlich ohne ihre triviale Einkleidung die nackte Fratze des Missbrauchs der Macht der Erwachsenen am hilflosen Kinde als verborgenen fürchterlichen Urschlamm des Generationenverhältnisses. |
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Bernd Schünemann
Quelle: Programmheft zur Aufführung der kobold am Stadttheater Fürth 2005 (mit freundlicher Genehmigung des Autors)
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