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Andreasnacht – metaphysischer Mittelpunkt in der Musik

Internationale Siegfried Wagner Gesellschaft e.V., Bayreuth

 

Musikalisches Zentrum der Oper

Die Andreasnacht steht im Mittelpunkt der Oper Bruder Lustig von Siegfried Wagner, die ja auch unter dem Titel »Andreasnacht« am 7. Juni 1944 an der Berliner Staatsoper inszeniert wurde; diese Aufführung war übrigens das Regiedebüt von Wolfgang Wagner – und zugleich die letzte szenische Realisierung des Werkes bis zur Aufführung am Stadttheater Hagen. In der Nacht zum 30. November gedenken die katholischen Christen des fischenden Apostels Andreas, Bruder des Simon Petrus. Er galt nach Jesu Tod als einer der Hauptverkünder des christlichen Glaubens in Kleinasien, Griechenland und vor allem Russland, dessen Schutzpatron er ist. Seinen Tod fand er Mitte des ersten Jahrhunderts in Griechenland an einem schrägen, x-förmigen Kreuz, dem »Andreaskreuz«, das heute noch an Bahnübergängen zu sehen ist. Er ist der Schutzpatron der Fischer und Fischhändler, aber auch – und in erster Linie – der Liebenden, und gilt als zuständig für Eheglück, Kindersegen und Eheanbahnung. Hier greift Siegfried Wagner die Andreasnachtsage auf und macht sie zu einem zentralen Punkt seines Opus.

Die Sage erzählt, dass liebende Mädchen den heiligen Andreas in der Nacht zum 30. November auf unterschiedlichste Art und Weise zu ihrem zukünftigen Geliebten oder Gemahl befragen. Im flackernden Ofenfeuer soll der Liebste selbst oder Andreas, der entweder ein Glas oder eine Karaffe Wein in den Händen trägt – je nach Reichtum des Zukünftigen – erscheinen und sich dem Mädchen zu erkennen geben. Auch wird Andreas durch den Blick in einen tiefen Brunnen befragt, in dem das eigene Spiegelbild den künftigen Gatten zeigt. Diese Bräuche gehen auf urgermanische Rituale und Mythen zurück, die – nach erfolgreicher »Christianisierung« – in Volkes Seele verhaftet blieben.

Eine Bedeutsamkeit der Sage ist die Geschichte des Dolches (bzw. des Messers in Bruder Lustig), den die Geisterscheinung des künftigen Geliebten verliert. Diesen verlorenen Dolch findet die Braut und versteckt ihn bis zu der unglücklichen Stunde, in welcher der Gemahl das Zauberzeichen in seinem Versteck – einer Truhe – entdeckt und sein Weib damit ersticht. Siegfried Wagner stellt diese Szene eindrucksvoll dar, verzichtet aber auf deren blutigen Ausgang.

Die Geschehnisse der Andreasnacht sind nicht nur für die weitere Handlung des Dramas, sondern auch für den musikalischen Verlauf der Oper außerordentlich bedeutsam: Als Rüle und die anderen Mädchen im ersten Akt auftreten, um Walburg an die bevorstehende Andreasnacht zu erinnern, erklingt hier erstmals ein musikalischer Themenkomplex – von Paul Pretzsch (»Die Kunst Siegfried Wagners. Ein Führer durch seine Werke«, Leipzig 1919) als Andreasnachtmotiv bezeichnet –, der nahezu die ganze Oper durchwebt (links); im Getuschel der Mädchen über den nahen Zauber tritt ein zweites Motiv (rechts) hinzu und erweitert das erste:


Motiv der Andreasnacht (links) und dessen Erweiterung (rechts)  -  nach Paul Pretzsch: »Die Kunst Siegfried Wagners. Ein Führer durch seine Werke«, Leipzig 1919


Dem Streit der Mädchen um die Zauberei und die Angst davor entspringt das Motiv des Andreasnachtzaubers (Pretzsch), das die unheimliche Stimmung jener Nacht in Erwartung des Hexenzaubers der Handlung vorausnimmt:


Motiv des Andreasnachtzaubers  -  nach Paul Pretzsch: »Die Kunst Siegfried Wagners. Ein Führer durch seine Werke«, Leipzig 1919


Zusammengenommen bilden diese verschiedenen Motive einen Themenkomplex, der schon bald den unheimlichen und mystischen Hintergrund für die Zauberhandlungen und Täuschungen der Hexe Urme bildet und den ersten Akt beendet.

Aber nicht nur im ersten, sondern auch in den folgenden Akten durchgeistern der Zauber und die Zaubereien der Andreasnacht die Szene. Als Walburg im zweiten Akt das Messer, das die herbeigerufene Geisterscheinung verloren hat, in der Truhe suchen will und von Konrad dabei beobachtet wird, schwelt das Andreasnachtmotiv zu einem musikalischen Feuer heran, das vollends entbrennt und klar hervortritt, als Konrad das Messer findet. Auch als der Priester von Heinrich die Herausgabe Walburgs fordert und das »sündige Paar« verflucht, folgt diesem Fluch das Motiv des Andreaszaubers in gewaltigem Fortissimo – eine zusätzliche Verfluchung auf der Ebene der Metaphysik. Selbst als der Kaiser im dritten Akt über die des Ehebruchs angeklagte Walburg richten soll, findet sich der Themenkomplex der Andreasnacht. Walburgs Beichte ist überschattet von den unheimlichen und geheimnisvollen Klängen der Andreasnacht, in der die wahrhaft dramatischen Verwicklungen um Zauber ihren Anfang nahmen.

Dass Siegfried Wagner besonderen Wert auf die Andreasnacht als einen musikalischen und dramaturgischen Knotenpunkt gelegt hat, zeigt demnach nicht nur die Position der Szene, sondern darüber hinaus ebenfalls die musikalische Bedeutsamkeit des motivischen Materials jener Szene. (Hier kann man eine kompositorische Verwandtschaft zu Siegfried Wagners Vater Richard erkennen, die aber ebenso z.B. auch bei Richard Strauss oder Ludwig Thuille anzutreffen ist.) Siegfried Wagner zeigt sein Bestreben nach historischer Authentizität, indem er den (im zehnten Jahrhundert überaus bedeutsamen) Aberglauben auch musikalisch an den Platz setzt, der ihm in diesem Werk gebührt: als metaphysisch-musikalischen Mittelpunkt.


Lars Kersting


Quelle: Programmheft
Bruder Lustig, Theater Hagen 2000 (mit freundlicher Genehmigung des Autors)
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