Gewalt in der Oper Die bislang letzte Inszenierung von Siegfried Wagners vierter Oper Bruder Lustig fand an der Berliner Staatsoper unter dem Titel »Andreasnacht« am 7. Juni 1944, also am Tag nach der Invasion in der Normandie und zwei Wochen vor Stauffenbergs Attentat auf Hitler statt. Wie Peter P. Pachl in seiner materialreichen Arbeit über »Siegfried Wagners musikdramatisches Schaffen« (Tutzing 1979) berichtet, war damals »nach Mitteilung von Kurt Söhnlein die Brautwerbung und Vergewaltigung der Mädchen durch die Soldaten im dritten Akt gestrichen, die als Parallele zum Zeitgeschehen hätte verstanden werden können.« In dieser Szene hat Heinrich von Kempten, der strahlende Titelheld der Oper, keine Skrupel, die Mädchen der besiegten fränkischen Stadt seinen Soldaten zur Vergewaltigung freizugeben: Ohne Strafen kämt ihr davon? Ihr Weiber! Wer noch ledig, trete vor! […] (zu den Soldaten) Die schönste Gabe, Der Plünderung Labe. […] Nun stürmt die Feste: Jedem die Seine! Doch hütet euch wohl: Jeder nur Eine! Eins, zwei und drei!
(Mit Ausgelassenheit stürmen die Soldaten auf die Mädchen zu. Ein Jagen beginnt. Die Mädchen sträuben sich. Die Väter machen gute Miene zum bösen Spiel.)
Was sich da auf der Bühne abspielt, zeichnet die Musik mit unzweideutigen Hornstößen und im vollen Orchester nach, vor allem im Bass, unter der Gürtellinie sozusagen, »kräftig gestoßen«. Ähnlich deutlich malt das Vorspiel zum »Rosenkavalier« (1911) die Liebesnacht zwischen Marschallin und Octavian mit japsenden Hörnem aus, die der Feldmarschall aufgesetzt bekommt. Die Intendanz der Berliner Staatsoper mochte derlei 1944 wohl nicht als Heldentat auf der Bühne präsentieren. Goebbels' Rede vom 8. März 1945 in Görlitz war zwar noch nicht gehalten, aber die »erschlagenen Kinder und geschändeten Frauen« erschienen wohl bereits vielen Deutschen in Alpträumen von russischen Truppen.
Wenn einerseits die zeitgeschichtliche Situation 1944 die Streichung der Szene verlangte, so erhebt sich anderseits die Frage nach der Beschaffenheit des Zeitgeistes, der anlässlich der Uraufführung von Bruder Lustig am 13. Oktober 1905 in Hamburg eine vom Titelhelden angeordnete Massenvergewaltigung auf der Bühne tolerierte. Siegfried Wagner schrieb das Libretto im Herbst 1902 nieder und vollendete die Komposition am 3. April 1905 in Rom.
Nun sind Vergewaltigungsszenen, noch gar mit Massenvergewaltigungen, in der Operngeschichte nicht gerade häufig. Vorkommendenfalls dienen sie dazu, den Täter als Bösewicht zu kennzeichnen. Klassisches Vorbild ist Mozarts »Don Giovanni« (1787) mit dem Vergewaltigungsversuch an Donna Anna. Ein direkter »Giovanni«-Nachfolger, Wrolds »Zampa« (1831), bezahlt den gewaltsamen Versuch, sich Camillas zu bemächtigen, mit dem gewaltsamen Tod in einer Höllenfahrt in »Giovanni«-Manier. Bei der Entführung Irenes im ersten Akt von Wagners »Rienzi« (1842) durch die Nobili bleibt es beim Versuch (Rienzi: »Und unsere Schwestern möchtet ihr entehren!«). Verführung durch dämonische Betörung (Don Giovanni und Zerline, Lord Ruthwen in Marschners »Vampyr«, 1828) oder durch Gold sind auf der Opernbühne zwar gar nicht so selten, können aber nicht als gewaltsamer Akt, eben als Vergewaltigung verstanden werden. Hierher gehören Alberich in Wagners »Ring« (»Vom Niblung jüngst vernahm ich die Mähr', dass ein Weib der Zwerg bewältigt, dess' Gunst Gold ihm erzwang.«) und der Nachtwanderer in Pfitzners »Rose vom Liebesgarten« von 1901 (»Deines weißen Busens schwellende Fülle, mit zahllosen Schätzen wög' ich dir auf, teiltest dein Bett du mit mir! Gütlich biet ich dir das.«). Auch bei der Defloration Diemuts durch Kunrad in Strauss' »Feuersnot« (1901) ist keine brachiale Gewalt im Spiel. Erst nach 1900 finden auf der deutschen Opernbühne Vergewaltigungen statt, etwa gleichzeitig zu Bruder Lustig in d'Alberts »Tiefland« (1903, zweite Fassung 1905), im zweiten Aufzug fällt Sebastiano mit Gewalt über Marta her: Ein Wille gilt hier nur, der meine, Ich zwinge dich zu Boden. Mein bist du, mein!
Von Gewalt weiß auch der Faninalsche Haushofmeister im »Rosenkavaller« zu berichten: »Die Lerchenauischen sind voller Branntwein gesoffen und gehn aufs Gesinde los, zwanzigmal ärger als Türken und Krowaten!« – ein wahrer Prophet des Bosnienkrieges. Gewalt in der Ehe demonstriert schließlich Francesco in Schillings' »Mona Lisa« (1915).
Von 1900 bis zum Weltkrieg ist die Vergewaltigung in deutschen Opern ein Thema, aber allein in Bruder Lustig ordnet der Titelheld eine Massenvergewaltigung an. Als Paradigma für diese Szene kommt der erste Akt von Meyerbeers »Robert der Teufel« von 1831 in Frage. Herzog Robert von der Normandie überlässt Alice, die Braut seines Untertans Raimbaud, den sizilianischen Rittern: Mais elle m'appartient, qu'on l'amène en ces lieux: chevaliers, je vous labandonne!
Erst als er Alice als seine Milchschwester erkennt, nimmt er sie vor der lüsternen Ritterschaft in Schutz. »Robert der Teufel« wurde am 26. April 1902 an der Berliner Hofoper neu inszeniert, Richard Strauss dirigierte das Werk 14mal. Vom Stil der damaligen Aufführung vermittelt eine Schellack-Platte einen schwachen Abglanz, auf der Emilie Herzog – Strauss widmete ihr die sechs Lieder aus »Lotosblätter« op. 19 – 1903 die Gnadenarie der Isabella aus dem vierten Akt interpretiert. Nicht ohne thematische Berechtigung diagnostiziert Pachl in der Bruder Lustig-Partitur eine Hinwendung zur Grossen Oper Giacomo Meyerbeers.
Bruder Lustig spiegelt den Imperialismus des Wilhelminischen Zeitalters getreulich wider. Die Vergewaltigung steht für das gute Gewissen – bzw. die Gewissenlosigkeit – des aggressiven Nationalismus. Wilhelm II. hielt am 27. Juli 1900 in Bremerhaven bei der Verabschiedung des China-Expeditionskorps seine berüchtigt gewordene Hunnen-Rede: »Pardon wird nicht gegeben. Gefangene werden nicht gemacht. Wer euch in die Hände fällt, sei euch verfallen!«. Diese Gesinnung wurde im Herero-Aufstand 1904/05 in den ersten Genozid des 20. Jahrhunderts umgesetzt.
Romain Rolland, ein aufmerksamer und hellhöriger Franzose, hat bereits 1904 an Strauss' »Heldenleben« die Symptome des Wilhelminischen Imperialismus wahrgenommen: »Es gibt in Deutschland Krankheitskeime: einen Wahnsinn des Hochmuts, einen Ichglauben und eine Verachtung der anderen.« Man kann sich lebhaft ausmalen, wie sensible Geister in Frankreich 1905 auf Bruder Lustig reagierten. Wenn die Marokko-Konferenz von Algedras 1906 zur Einkreisung Deutschlands führte, so ist das auch ein Reflex der Botschaften, welche die deutsche Musik von der inneren Verfassung der tonangebenden Kreise Deutschlands nach außen sandte. Auch das verzerrte französische Propagandabild einer mordenden und brennenden deutschen Soldateska hat generell nicht reale, aber vielleicht kulturelle Gründe, wie sie sich etwa in Bruder Lustig zeigten. […] Albéric Magnard (1865 – 1914), der Komponist von »Guercoeur« und »Bérénice«, verteidigte am 3. September 1914 sein Haus in Baron, Oise, nördlich von Paris mit seiner Flinte gegen die einrückenden deutschen Truppen aus Furcht vor Gewalt und Raub, er starb in den Trümmern seines Anwesens, und mit ihm verbrannten seine Partituren. Auch das war eine Frucht des imperialen Anspruchs, der sich in Bruder Lustig spiegelt.
Herrschaftsträume haben in der deutschen Musik den ersten Weltkrieg durchaus überlebt. Arnold Schönberg glaubte, mit seiner Zwölftonmusik eine Erfindung gemacht zu haben, »die der deutschen Musik die Vorherrschaft für die nächsten hundert Jahre sichere.« Verglichen damit nimmt der vielgescholtene Nationalismus Hans Pfitzners eine fast rührend zu nennende Defensivhaltung ein. Als zu guter Letzt 1944 der deutsche Imperialismus auf dem Rückzug war, wurde die Vergewaltigungsszene in Bruder Lustig unterschlagen – denn diesmal waren die Opfer Deutsche und mit der Lustigkeit war es zu Ende. Walter Keller
Quelle: Programmheft Bruder Lustig, Theater Hagen 2000 (mit freundlicher Genehmigung des Autors)
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