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Vergewaltigung oder Befreiung ?

Internationale Siegfried Wagner Gesellschaft e.V., Bayreuth

 

Gedanken zum Schluss des Werkes

Bruder Lustig, so heißt es gewöhnlich, gebe gegen Ende der nach ihm benannten Oper das Signal für eine Massenvergewaltigung. Durch diese Interpretation wird jedoch eher das Stück vergewaltigt, da sie ihm mit Schlagworten des 20. Jahrhunderts zu Leibe rückt, ohne sich erst einmal um seine innere Logik und um den Punkt zu kümmern, um den das Werk sich dreht.

Der liegt eindeutig in der Frage, warum die armen Frauen sich überhaupt auf die verbotene und in doppeltem Sinn lebensbedrohliche Zauberei der Andreasnacht einlassen: tödliche Gefahr birgt die Beschwörung zur magischen Mahlzeit selbst durch die unmittelbare Nähe entfesselter dunkler Kräfte; was nach dieser Nacht ein Leben lang bleibt, ist die Gewissheit des Todes auf dem Scheiterhaufen, wenn irgendjemand von der Zauberei erfährt. Solchen Gefährdungen setzt man sich nicht aus Leichtsinn aus, aus Koketterie oder Neugier. Sondern nur aus Not.

Einer existenziellen Not, die mit der Situation der Frau im Mittelalter zu tun hat. Von heutigen Feministinnen gern zur Hoch-Zeit weiblichen Ansehens und starker weiser Frauen umgelogen, verurteilt diese Epoche Mädchen und Frauen vielmehr zu quälendem Warten, zu oft jahrelangem, oft vergeblichem Warten auf den Mann, mit dem ihr eigenes Leben erst beginnt. Dieses Warten und Warten und Warten, ob einer kommt, der sie holt und will, dieses Ausgeliefertsein an den, der sie erwählt: wird es ein strahlender Held sein? Ein Mann, den sie lieb gewinnen kann? Ein Scheusal? Oder wird gar keiner kommen? Die einzige Möglichkeit, einen wenn auch noch so geringen Einfluss auf das eigene, fremdbestimmte Schicksal zu nehmen, liegt in der verbotenen nächtlichen Beschwörung.

Hier liegt wohl auch ein Ansatz für Siegfried Wagners Interesse an dem Stoff, befand er sich doch zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch seine Homosexualität in ähnlicher Situation: zur Heimlichkeit verurteilt, gesellschaftlichen Zwängen ausgeliefert, weitgehend nicht in der Lage zu einer freien und selbstbestimmten Partnerwahl.

Konsequent zieht sich die Motivik der Andreasnacht durch die Oper und hält so auch musikalisch den verzweifelten Ausbruchversuch der Frauen als Grundthema des Werks im Gedächtnis wach. In diesem Zusammenhang kann Heinrichs Aufruf an die Soldaten kurz vor Stückschluss nicht mehr als Aufforderung zu einer Massenvergewaltigung verstanden werden: eher tritt er als Befreier und Beglücker der ledigen Frauen auf, denen er das gibt, was sie seit Beginn des Stückes wollten – den ersehnten Mann. Heinrich spricht von Strafe, richtet sich dabei aber an die männlichen Bürger der Stadt, beschimpft sie als »Frevler« und »Kaiserknebler«: sie, die im Bewusstsein ihrer Machtposition die Mädchen ihrer Stadt zu lange haben zappeln lassen, gehen jetzt leer aus. Damit vollendet Heinrich nur das, was er in der Andreasnacht begann, als er die kaiserlichen Häscher ins Haus der Zauberin und zum Tanz mit den ledigen Frauen lockte.

Die Mädchen haben im Verborgenen gern mit den Kaiserlichen getanzt, jetzt, bei Tage und im Angesicht der Städter, »sträuben sie sich«. Auch das Teil jener weiblichen Situation, wo die Frau ihre Sehnsucht nach einem Mann nicht einmal offen aussprechen darf, obwohl doch mit ihm erst ihr eigenes Leben in der Gesellschaft beginnen kann. Eine Situation, die sich im Denken vielfach bis in unsere Zeit erhalten hat. Heinrich, als der einzige, der – in der Vorgeschichte – die Not des geschlagenen Kindes verstand, der einzige, der für das Kind eintrat, er ist auch der einzige, der – durch sein Miterleben der Andreasnacht – die Not der armen Frauen versteht. Nicht zufällig sagt er »uns alle«, als er von den Bezauberungen dieser Nacht spricht.


Dorothea Renckhoff


Quelle: Mitteilungen der Internationalen Siegfried Wagner Gesellschaft e.V., Bayreuth, XXVIII/IXXX 2001 (mit freundlicher Genehmigung der Autorin)
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