Dunkles und Erhellendes im Konglomeratmärchen Märchen, Hausmärchen zumal, haben derzeit wieder Konjunktur. Nicht nur erfreuen sich die alten DEFA-Produktionen unverminderter Beliebtheit und werden seit ihrer Erstausstrahlung vor mehr als einem halben Jahrhundert bis heute ohne Unterbrechung auf verschiedenen Fernsehkanälen immer und immer wieder wiederholt, sondern es kommen stets neue und neueste Verfilmungen von Märchenstoffen hinzu, z. B. Märchenperlen (ZDF) oder Sechs auf einen Streich (ARD). Hierzu zählen ebenso einzelne Märchen forterzählende oder verschiedene Märchenstoffe und -stränge miteinander verknüpfende Produktionen des US-Fernsehens, die mühelos auch hierzulande ihre Quotenziele erreichen, wie die mittlerweile schon vierte Staffel von Once Upon a Time oder die Krimiserie Grimm, die – mit Elementen des Mystery- und Fantasy-Genres angereichert – im weitesten Sinne auf – nomen est omen – Grimmschen Märchen basiert, sowie natürlich auch diverse Kinoadaptionen aus jüngster Zeit wie beispielsweise Snow White and the Huntsman (2012), der 3D-Blockbuster Hänsel und Gretel: Hexenjäger (2013) oder gar Das Märchen der Märchen (2014), nicht zu vergessen die animierte Märchenparodie Shrek mit ihren vier Fortsetzungen (2001-2010). In einem Hörspiel des Titels CSI: Märchen (2012) ermitteln Spezialisten der Crime Scene Investigation gegen Hexen, Prinzessinnen, Zwerge und das Rumpelstilzchen und lösen »die härtesten, brutalsten und undurchsichtigsten Fälle im Märchenland«. Als üppige Filmversion fand zuletzt (2014) auch Stephen Sondheims ambivalentes Musical Into the Woods (1987) den Weg von der Bühne in den Kinosaal – doch begründet wurde diese Tradition der Konglomeratmärchen mit Siegfried Wagners Erfolgsoper An Allem ist Hütchen Schuld! von 1915. Die schon von Paul Pretzsch als »lustige[s] Märchendurcheinander«(1) charakterisierte Verflechtung von – nach eigener Aussage des Komponisten – mindestens »vierzig Märchen« (III, 5) zu op. 11 erzählt aus vielen alten eine – dramaturgisch plausible – neue Geschichte und bedient sich dabei bereits sämtlicher Stilmittel und Möglichkeiten, die dem Genre zur Verfügung stehen. Die Szene gleich zu Beginn mutet wie die musikalische Illustration jener kuriosen Begebenheit an, die neben anderen in dem Märchen der Grimmschen Sammlung Der Frieder und das Catherlieschen berichtet wird, um das zwar gutherzige, aber einfältige Naturell der jungen Frau herauszustellen, die sechs (!) Käselaibe dazu bringen will, die anderen zurück zu holen, indem sie sie nacheinander einen Berghang hinabrollen lässt. Diese erste Ebene der mehrschichtigen Opernhandlung wird damit zunächst noch – im besten Sinne – dem Anspruch eines Märchenspiels gerecht, wie es Siegfried Wagners Freund und Mentor Engelbert Humperdinck mit Hänsel und Gretel realisiert hat. Gleich darauf schiebt sich für einen kurzen Moment eine Ebene scheinbarer Realität dazwischen, wenn Katherlies’chen schließlich die Käse doch selbst holen muss – und dann reihen sich in rascher Folge sprichwörtliche Redensarten (»wenn die Katz’ sich putzt …«) und märchenhaftes Tun (Stiefelprobe) voller Anspielungen und Symbolik (Frieders und später auch Katherlies’chens Flötenspiel, das Sternenkleid) aneinander und treiben die Handlung zügig voran. Die Begegnungen mit Sonne, Mond und Stern, mit Menschenfresser, Tod und Teufel einschließlich dessen Großmutter, die Rettung des Königsohns und am Ende die Wiedererweckung der Toten – Fülle und Vielfalt der Verweise und Zitate zeigen nicht nur das breite Spektrum, sondern auch den souveränen Umgang Siegfried Wagners mit seinen Quellen, deren Versatzstücke er so virtuos montiert, dass ihre Herkunft in der Collage noch erkennbar bleibt. Im schnellen Wechsel von Ernst und Scherz, Wortwitz und Groteske erblickt selbst Hans Mayer keine »leerlaufende Theatralik«(2), sondern ein »geglückte[s] Musikmärchen«(3); freilich urteilt er damit nicht weniger oberflächlich als die frühen Exegeten und Apologeten, die insbesondere in op. 11 vorwiegend ein »entzückendes Märchenspiel«(4) und noch in Siegfried Wagners dunkelsten Werken kaum mehr als ein unscharf definiertes »Stück deutscher Volksgeschichte«(5) wahrzunehmen im Stande waren. Dem märchenkundigen Rezipienten genügen die Zitate – ein Anklang oder Splitter – zur Assoziation des ursprünglichen Zusammenhangs, der unkundige erfreut sich an einer ebenso abwechslungsreichen wie kurzweiligen Geschichte. Im zweiten Akt, als sich die Wege des Pärchens trennen, kommt es zu reziproken Doppelungen im Verlauf ihrer individuellen Erlebnisse und Abenteuer; wie zuvor Frieder Trude, so weist Katherlies’chen den Königsohn zurück (II, 4), der Szene Katherlies’chens mit Müller und Müllerin in der Mühle (II, 7) entspricht unmittelbar die Frieders mit Wirt und Wirtin in der Wirtsstube (II, 8). Das goldene Ei des Löweneckerchens und die drei ebenfalls goldenen Haare des Teufels, die die beiden beschaffen sollen, dienen jedoch nur scheinbar dem Glück des Paares, vielmehr sind sie für die Rezeptur eines Liebestranks bestimmt, mit dem Trude Frieder am Ende doch noch gewinnen will. Dieser muss zudem drei schwierige Fragen lösen, nach deren Beantwortung er nebenbei – durch Epressung – in den Besitz der drei Zaubergegenstände »Tischchen deck‘ dich«, »Gold-Esel Bricklebrit« und »Knüppel aus dem Sack« gelangt (II, 5); während die beiden ersten sich letztlich als nutzlos erweisen, setzt er den dritten erfolgreich gegen seinen rechtmäßigen Vorbesitzer ein. An zwei Stellen werden die ineinander verwobenen Märchen- und Opernhandlungen und die Verschiebung der Bedeutungsebenen aufgebrochen, das erste Mal durch eine originelle Selbstreferenzierung, als Katherlies’chen dem Tod behilflich ist, dem noch die Blessuren der Attacke Dietrichs in Siegfried Wagners op. 6, Banadietrich, zu schaffen machen (II, 2). Zur Belohnung erhält sie eine Wundersalbe, die tatsächlich auch später in der »realen« Welt noch wirkt. Der zweite Bruch ereignet sich, nachdem Trude auf einem Besen mit den übrigen Hexen davongeflogen ist und einem Happy End nun nichts mehr im Wege steht, als ein grundloser Streit im dritten Akt sogar Jacob Grimm und dann auch Siegfried Wagner selbst auf die Bühne zwingt (III, 5), wo sie sogleich ebenfalls in Streit geraten. Dieser drastische Verfremdungseffekt wird plötzlich noch gesteigert durch die Erscheinung der Märchenfrau, i. e. Dorothea Viehmann, einer der wichtigsten mündlichen Quellen für die Sammlung der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm. Sie erklärt, dass nicht nur die dramatis personae, sondern auch deren Autoren, wie wir alle, dem Einfluss Hütchens unterliegen; nach ihrer Ansprache – beinahe ein klassischer Showstopper – verschwinden die drei Gestalten wieder. Als Urheber sämtlicher Verwicklungen fast allgegenwärtig ist das als Kobold eingeführte Hütchen die bühnentaugliche Erklärung für Unerklärliches. Als Figur wird es bereits in Siegfried Wagners dritter Oper, Der Kobold (1903), namentlich erwähnt, wo es zu den ruhelosen Spukgestalten getöteter – i. e. abgetriebener – Kinder gehört. Die Verharmlosung dieses abgründigen Vorläufers in op. 11 verdient genaueres Hinsehen ebenso wie manches kleinere oder größere Detail und manche mehr oder weniger eindeutige Situation der Protagonisten auf ihrem jeweiligen Weg der Initiation. Die beiden Waldbegegnungen im Mittelakt zum Beispiel erscheinen zunächst wie unverfängliche Episoden innerhalb der Erzählstruktur: das eine Mal kann Frieder Katherlies’chen nicht erkennen, weil Hütchen ihm zuvor unbemerkt Augentropfen verabreicht hat, die ihm den Blick trüben, das andere Mal will Katherlies’chen umgekehrt Frieder nicht erkennen, um sich eben dafür zu rächen. Bei der ersten Waldbegegnung (6. Bild) heißt es: Katherlies’chen: Bist Du denn der Frieder nicht? Frieder: Nein! Katherlies’chen: Aber ich bin doch das Katherlies’chen? Frieder: Weiß nicht. Katherlies’chen: Wenn Du nicht der Frieder bist, Wärst Du am End‘ der Hannes? Frieder: Mag sein. Katherlies’chen: Dann wär ich vielleicht das Bärbele? Frieder: Am End‘.
Im 9. Bild wiederholen sich Rede und Widerrede auf ähnliche Weise: Katherlies’chen: Wer bist Du? Frieder: Der Frieder! Katherlies’chen: Der bist Du nicht! Frieder: Aber Du bist das Katherlies’chen! Katherlies’chen: Weiß nicht – Frieder: Musst doch wissen, wer Du bist. Bist Du am End‘ das Bärbele? Katherlies’chen: Am End‘ – Frieder: Dann will ich der Hannes sein Und Dich grüßen und küssen!
Das Namensspiel deutet zunächst auf das Märchen Der Schatz im Höllenloch hin, in dem der »gottlose Frieder« sich vom »krummen Hannes« dazu verleiten lässt, an einem Seil in ein Erdloch hinab zu steigen, um einen Goldschatz zu bergen; unter Anrufung des Teufels gelingt ihm der Abstieg beim zweiten Versuch, aber er kehrt nicht wieder an die Oberfläche zurück. Habgier und Teufelspakt zählen jedoch eigentlich nicht zu den Charaktereigenschaften des Frieder, wie Siegfried Wagner ihn versteht; im Kontext obigen Dialogs verweist die Verkürzung der urspünglichen Namensform (Johannes) auf Hannes eher auf den in der Märchenliteratur überproportional weit verbreiteten »Hans«. Dieser tritt insbesondere in Glücksmärchen auf, wie beispielsweise Hans im Glück, der Gold gegen Steine eintauscht und nach deren Verlust sich buchstäblich erleichtert fühlt, oder Hans Dumm, dessen Wünsche alle in Erfüllung gehen und der am Ende sogar König wird. Wenn nun Frieder als Hannes Katherlies’chen »grüßen und küssen« will, bringt er damit seine intellektuelle Annäherung an die Geliebte zum Ausdruck, obgleich ihm deren Dummheit manchmal allerdings »schon nimmer schön« (I, 1) erscheint. Der Name Katherlies’chen indes leitet sich aus Katharina und Elisabeth, also von einer Märtyrerin und einer Heiligen her; doch schon in dem erwähnten Schwank Der Frieder und das Catherlieschen zeigt letztere deutliche Symptome einer Identitätsstörung – sie hält sich selbst für jemand anders – und Bewusstseinsspaltung(6), die sich auch im Libretto der Oper wiederfinden. Zum Subtext ihres Namensspiels in diesem Dialog der Protagonisten legt Siegfried Wagner noch eine zusätzliche Spur: Unter den »über 24.000 Märchen, Sagen, Bräuche[n] und Legenden« der Deutschen Märchen und Sagen(7) findet sich nämlich nur eine einzige Erzählung, in der ein »Bärbele« vorkommt: Die Hexenkirchweih. Die schaurige Kurzgeschichte handelt von einem »Bauernmädel«, das zu einer Cousine auf die Kirchweih gehen will; auf dem Weg dorthin verläuft es sich prompt im Wald, wird dann von einer wachsenden Schar weiterer »Basen« und schließlich auch von zwei »feurigen Männern« begleitet. Nachdem es auf dem Fest betäubt wurde, erwacht es am Morgen »auf einem Misthaufen mit zerrissenen Kleidern und in dem liederlichsten Zustand.« Als sie erkannte, dass sie vergewaltigt und auf den Müll geworfen worden war, »da fuhr die Bärbel vor Schrecken zusammen und wurde leichenblass, denn jetzt konnte sie die ganze Geschichte begreifen. Man sagt, sie sei tiefsinnig geworden und in ein Kloster gegangen.«(8) Die Verwendung des Diminutivs bezüglich ihres Namens wird übrigens hier am Ende aufgegeben, nicht so jedoch in der Opernhandlung. Die seltsame Begegnung am Ende des zweiten Akts, als Katherlies’chen auf die Itsche trifft, ist ein Indiz dafür, dass die Sache folgenlos blieb. Als Symbol der Fruchtbarkeit sind Kröten stets gutartig, hilfsbereit und – redselig. Unter ihrer mundartlichen Bezeichnung werden sie in den beiden Märchen Die drei Federn und Der Eisenofen erwähnt; sie verhelfen den Protagonisten ohne Weiteres zu ihrem Fortkommen und beantworten bereitwillig ihre Fragen, denn sie können nicht nur – wie üblicherweise alle Tiere im Märchen – sprechen, sondern tun dies auch gern und oft sogar in Reimen. Bei ihrem Auftritt am Ende des zweiten Akts jedoch spricht die Kröte nicht nur nicht, ihr Schweigen wird sogar explizit thematisiert: Es handelt sich um den kaum verschlüsselten Verweis auf einen Schwangerschaftstest, dessen Methode noch bis ca. 1960 gebräuchlich war und als sehr zuverlässig galt: Setzt man eine Kröte in den Urin einer schwangeren Frau, beginnt jene – ausgelöst durch die darin enthaltenen Schwangerschaftshormone – innerhalb kurzer Zeit zu balzen; nach einigen Stunden legen weibliche Tiere Eier ab, männliche produzieren Spermien. Das Schweigen der Kröte entspricht demnach der umgekehrten Indikation: der Test fällt negativ aus, die Kröte bleibt stumm. — Achim Bahr
Quelle: Originalbeitrag für das Programmheft zur Aufführung in Bochum, 2015.
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