| Deutschland und Italien Im Gegensatz zu den meisten anderen seiner Bühnenwerke besitzt Siegfried Wagners Heilige Linde eine verwandtschaftliche Nähe zum väterlichen »Ring des Nibelungen«: Walhall, Wotan und Tor werden im Schlussensemble angerufen, und der in Siegfried Wagners Prosaentwurf im zweiten Bild des dritten Aktes nachgetragene Einschub der Worte Hildegards: »O trauriger König! Den Treuen untreu, den Untreuen treu!« schlägt unvermittelt die Brücke zu Brünnhildes Definition des in ihrem Auftrag getöteten Gatten Siegfried: »Die Gattin trügend, treu dem Freunde«. Was mit Walhall und den Göttern Wotan und Tor verbal passiert, findet obendrein noch eine szenische Entsprechung zum Schlussbild der »Götterdämmerung«: hier wie dort wird ein Scheiterhaufen errichtet, auf dem die Leiche des Gatten verbrannt wird. Allerdings driften die Handlungen, trotz der gesuchten Ähnlichkeit des Topos, dann doch merklich auseinander. Dabei spielt Die heilige Linde, die laut Zeitangabe der Partitur im »dritten Jahrhundert unserer Zeitrechnung« angesiedelt ist, in ihrer Aussage verblüffenderweise in einer noch früheren Epoche als der von Richard Wagner in mythischer Vorzeit angesiedelte »Ring des Nibelungen«. Denn während die Götter am Ende von Richard Wagners Bühnenfestspiel zugrunde gehen, werden sie in der Heiligen Linde des Sohnes am Ende noch beschworen und um Hilfe angerufen. Und während bei Richard Wagner die Gattin, um dem untreuen Gatten in den Tod zu folgen, hoch zu Ross zur Selbstverbrennung in den Scheiterhaufen springt, verspricht sie sich im musikdramatischen Werk des Sohnes, während sie den toten, untreuen Gatten im Scheiterhaufen verkohlen lässt, bereits einem anderen Mann, dem sie ihre Liebe erklärt.
Das als Operndichtung veröffentlichte Libretto Siegfried Wagners differiert stets gegenüber dem tatsächlich komponierten Wortlaut. Das Textbuch zu opus 15 vermittelt den Eindruck, an der Stelle von Brünnhildes Schlussgesang stehe hier ein Schlussgesang Hildegards. Quasi als Regieangabe ist im Libretto die Wiederholung der Worte Hildegards durch den Chor vermerkt: »Die Frauen und Männer stimmen mit ein«. Das sollte den Leser nicht wundern, denn so war es auch am Ende von Bruder Lustig, wo beim Friedensschwur an der Eiche tatsächlich das Volk die Worte des Kaisers wiederholt. Und wie das Ende erneut den Schluss des Vorspiels jener Oper zitiert hatte, so bringt auch opus 15 im Finale die Wiederkehr des Schlussteils des Vorspiels. Bei der Heiligen Linde fordert die musikalische Struktur allerdings ein vielstimmiges Chor-Ensemble, das zusätzlichen Textes bedarf und sich nicht in der Wiederholung der Worte Hildegards erschöpft. Erschöpfung ist gleichwohl an dieser Stelle dem Librettisten Siegfried Wagner zu attestieren: Denn gelingt es ihm im Arioso zumeist trefflich, zur inneren Melodie den nötigen Wortschwall zu erfinden, so lässt ihn angesichts der Verbalisierung des musikalischen Schlussgedankens der Heiligen Linde die Muse im Stich. Das Scheitern am verbalen Nachvollzug der fünf Jahre zuvor kühn entworfenen Symphonik weist auf seine ureigene Crux hin. Er ist nicht in der Lage, das national(istisch)e Kunstwerk zu schaffen, das man von ihm verlangt – da er anders denkt und vom nationalen Ideengut so wenig überzeugt ist wie von der Berufung auf die deutsche Geschichte. Die seitens seiner Mutter Cosima und ihres selbsterwählten »Sohns«, des Schwiegersohns Houston Stewart Chamberlain geforderte und von seiner (ebenfalls britischen) Gattin Winifred erwartete Nationaloper kann der kosmopolitische Wahl-Italiener und schließlich offen bekennende Philosemit Siegfried Wagner nicht leisten. Sein Herz schlägt hörbar für die Verführerinnen (Autonoë) und für die Weichen, die sich verführen lassen (Arbogast). Die Szene, in der sich Antenor in seinem Verlangen nach Autonoë verzehrt, wird zum eigentlichen Höhepunkt des dritten Aktes. Der musikalische Höhepunkt des gesamten Werkes liegt deutlich in dessen Mitte. Musikalisch und textlich sprudeln die Einfälle des Komponisten für den intellektuellen Philo weit stärker als für die Vertreter tumben Deutschtums, das sich aufs eklatanteste in der materialistischen Denkweise Sigruns manifestiert. Die Affinität des Komponisten zu Fritigern, der Hoffnung auf einen künftigen Helden, wird dann hörbar, wenn dieser sich völlig unheldenhaft in eine gesellschaftlich nicht tragbare Amoure (zur verheirateten Hildegard) verstrickt. Gleichwohl führt Siegfried Wagner, als ein exquisiter Kenner von Mythos und Aberglauben, die Schlussansprache Hildegards durch den Schlusschor hintergründig ad absurdum: das Eichhorn, das Hildegard als Symbol der Zwietracht unabdingbar von der künftigen heiligen Linde ferngehalten wissen möchte, ist – laut Grimm und Mannhardt – als Personifikation des züngelnden Blitzes dem Gewittergotte heilig; und der wiederum ist kein anderer als Tor. Die Bitte um das Fernbleiben des Eichhorns (durch Hildegard und den Chor) und die Anrufung Tors (durch Soli und Chor) bilden einen Widerspruch, der für Siegfried Wagner offenbar unlösbar mit Brauchtum und Geschichte, mit Deutschtum und der Hoffnung auf Erneuerung verbunden ist. Und so endet die Oper nur scheinbar bombastisch und im Bewusstsein der Tonika-Wirkung auf sicherem Terrain, innerlich aber hohl. So wird der Schluss der Oper zur Reverenz an den Intellektualismus – und den verkörpert in Siegfried Wagners Heiliger Linde niemand anderes als Philo.
Rein oberflächlich betrachtet, hätte diese Oper dennoch im Dritten Reich einen Platz im Spielplan einnehmen können. Aber im Gegensatz zur posthumen Uraufführung von Siegfried Wagners Der Heidenkönig opus 9, (1933 an der Kölner Oper durch Siegfried Wagners Regieschüler Alexander Spring), erlebte Die heilige Linde in der Zeit des Nazi-Regimes keine Aufführung. Die Ablehnung gegenüber dieser Oper ist weniger durch das Bündnis Hitler-Deutschlands mit Mussolini-Italien zu begründen als mit der Aussage der Opernpartitur selbst. Die Deutschen, respektive deren Oberschicht, erscheinen in dieser Opernhandlung gar zu dumm und ohne Hoffnung auf Erkenntnis, während die Nicht-Deutschen ihnen intellektuell weit überlegen sind und sie überleben. Als Nationaloper aber war ein Bühnenwerk, das die Unterlegenheit des Deutschtums aufzeigt, nicht zu gebrauchen. Diese weder unbeabsichtigte noch unzutreffende Erkenntnis des Komponisten schützte sein Werk vor der Vereinnahmung durch ein totalitäres System.
Obendrein ist auch diese Oper Siegfried Wagners, wie seine anderen Bühnenwerke, reich an autobiographischen Zügen. Eindeutig findet sich eine Parallele zwischen der Geschichte des alternden Gatten (Arbogast) und seiner jungen Frau (Hildegard) sowie des jungen Nachwuchses und der Biographie Wagners und der Heirat mit der wesentlich jüngeren Winifred. Die Analogie der völkischen Vision der Gattin und ihrer erwachenden Liebe zu einem jungen Draufgänger scheinen überaus deutlich. Der Tagebuch-Eintrag von Josef Goebbels im Mai des Jahres, in dem Siegfried Wagner die Partitur der Heiligen Linde vollendete, scheint hierzu passend: »Frau Wagner holt mich zum Essen herein (…) So sollten sie alle sein. Und fanatisch auf unserer Seite. (…) Sie klagt mir ihr Leid. Siegfried ist so schlapp. Pfui! Soll sich vor dem Meister schämen. (…) Eine junge Frau weint, weil der Sohn nicht ist, wie der Meister war.« Siegfried Wagner hingegen, der politisch eben nicht auf Goebbels und Winifreds Seite stand und sich entschieden weigerte, der NSDAP oder der Nationalsozialistischen Gesellschaft für Deutsche Kultur beizutreten, erhielt dafür in Goebbels Tagebuch die Charakterisierung: »Feminin. Gutmütig. Etwas dekadent.« Und im gleichen Zuge stellte Goebbels Siegfried Wagners Künstlertum in Zweifel: »So etwas wie ein feiger Künstler. Gibt es das? Gehört zum Künstler nicht wenigstens Zivilcourage?«
Mit jener »massenumspannenden, stählernen Romantik«, die Goebbels von deutschen Tonsetzern verlangte, hat Siegfried Wagners hoch artifizieller Kompositionsstil, selbst auf der nationalen Ebene seiner Oper Die heilige Linde, nichts gemein. Peter P. Pachl
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