| »Die nationalsozialistische Mutter Gottes« Brigitte Hamanns Hagiographie: Winifred Wagner oder Hitlers Bayreuth Im Jahre 1997, dem 100. Geburtstag von Richard Wagners Schwiegertochter Winifred, hatte Festspielleiter Wolfgang Wagner eine große Winifred Wagner-Ausstellung angekündigt, dann zurückgezogen und auf unbestimmte Zeit verschoben, bis die Materialien kritisch aufgearbeitet wären. Die Ausstellung fand bis heute nicht statt. Wolfgang Wagner forderte die Historikerin Martha Schad auf, eine Biographie seiner Mutter zu verfassen, zog allerdings seine Bereitschaft, ihr alle Materialien zugänglich zu machen, zurück, als Brigitte Hamann, die er bereits 1997 erfolglos um einen Vortrag über seine Mutter gebeten hatte, sich bereit erklärte, als Fortsetzung ihres Buches »Hitlers Wien« eine Biographie über die Festspielchefin von 1930 bis 1944 zu schreiben. Schad veröffentlichte daraufhin »Frauen gegen Hitler«, eine lesenswerte Ergänzung zur jüngsten Publikation. Hamanns umfangreiche Arbeit, die sich auf zahlreiche verstreute Quellen stützt, aber auf ein Literaturverzeichnis ebenso verzichtet wie auf die Quellenangabe ihrer Abbildungen (etwa Adolf Hitlers Entwurf eines Bühnenbildes zu »Lohengrin«), erweist sich als leicht lesbare Anekdotensammlung. Worum ging es der Autorin? Um eine Hagiographie der Beschriebenen oder gar um ein Werben um den Nachvollzug, es »müsse doch allerlei Gutes an Hitler gewesen sein.« (593)
Kritische Distanz vermisst der Leser oft, etwa wenn Hamann von »Hitlers Erfolgserie« (226) spricht. Sie steht auf der Seite der harten Nazidoktrin, wenn sie einen Fackelzug des Bayreuther Bundes der Deutschen Jugend, 1926 in Weimar, als »höchst altväterisch« klassifiziert, »verglichen mit den kraftvollen Aufmärschen der SA-Jugend« (151). Die von Autorin und Verlag gewählte alte Rechtschreibung lässt gar darauf schließen, dass hier eine bewusste Rückwärtsgewandtheit an den Tag gelegt wird, ja dass man bewusst den Kreis der Ewig-Gestrigen als potenzielle Gleichgesinnte um sich zu scharen gedenkt. Die reiche Quellenlage und der Umfang des Buches lassen auf eine exakte Arbeit schließen, aber prüft man genauer nach, so stößt man auf bewusste Unterschlagungen von Fakten, die der Autorin aus Briefwechseln, die sie zitierte, durchaus bekannt sein müssten, wie etwa der Korrespondenz Siegfried Wagners mit Evelyn Faltis, den Hamann einmal mit korrekter Ortsangabe (Handschriftensammlung der Bayerischen Staatsbibliothek) zitiert, aber weidlich außer Acht lässt. Der Musikschriftsteller Otto Daube war anlässlich des Erscheinens von Zdenko von Krafts Biographie »Der Sohn – Siegfried Wagner. Leben und Umwelt« im Jahre 1969 entsetzt darüber, dass Kraft so Mediokres, wie die Briefe der Wahnfried-Haushälterin Lieselotte Schmidt, als ernstzunehmende historische Quelle verwendet hatte. Diese Briefe werden auch in Hamanns Buch emsig zitiert, wobei sich die Autorin auf Winifred selbst berufen kann, die diese Briefe auch David Irving als »reichhaltige Quelle« zur Einsicht für seine Hitler-Biographie überlassen hatte. In den letzten Lebensjahren verfasste der 1900 geborene Daube als Zeitzeuge eine eigene Biographie (»Bayreuth – Begegnungen – Bekenntnisse«), die jedoch ungedruckt blieb. Hamann zitiert aus dieser Biographie, die sie bei Rüdiger Pohl eingesehen hat; den sie in diesem Fall jedoch nicht als Quelle angibt, sondern nivellierend die »Deutsche Richard Wagner Gesellschaft Bayreuth« nennt. Und weder der Titel »Begegnungen eines Neunzigjährigen«, noch die zitierten Seitenangaben stimmen mit dem Typoskript im Besitz der Nachkommen Daubes überein, laut derer es aber auch nicht mehrere Versionen der Erinnerungen Daubes gibt. Irrtümer Die Unkenntnis der Werke Richard Wagners und der Bayreuther Festspielgeschichte schlägt sich in einer Reihe vor Irrtümern nieder. So verwechselt die Autorin, darin Winifred folgend, die Esche, in deren Stamm das Schwert Nothung steckt, mit einer Eiche (91). Ein andermal liest und zitiert sie »Nothung, (…) zum Leben weckt ich dich wieder« falsch als »zum Leben weiht ich dich wieder« (124). Den Regieassistenten Wolfram Humperdinck macht sie zum Bühnenbildner (137) und die Bayreuth-Sängerin Luise Reuss-Belce zur »Künstler-Agentin« (143). In ihrem Bemühen, »die erstarrte und unfruchtbar gewordene Tradition Bayreuths« aufzuzeigen, versteigt sich die Autorin zu der Behauptung, Toscanini habe bei den »Tannhäuser«-Proben 1930 »schwere Fehler des Orchesters, die sich seit langem eingeschlichen hatten«, korrigiert. Dabei übersieht sie, dass »Tannhäuser« zuvor zuletzt im Jahre 1904 in Bayreuth auf dem Programm stand. Um ihre These, »Bayreuth kam durch Tietjen und Preetorius aus der provinziellen Enge der Völkischen heraus und erhielt weltstädtisches Niveau« (226) zu untermauern, liefert Hamann diverse, schwer haltbare Beispiele. Möglicherweise verwechselt sie den Dirigenten Erst Praetorius mit Emil Preetorius, wenn sie über die Banadietrich-Aufführung 1929 in Weimar schreibt: »Der Bühnenbildner war diesmal kein Völkischer, sondern ein ‚Judenfreund‘ und Neuerer, der seine großen Erfolge in Zusammenarbeit mit Bruno Walter in Berlin gefeiert hatte: Emil Preetorius.« (173) Tatsächlich stammten die Bühnenbilder der Inszenierung von Alexander Spring aber nicht von Preetorius, sondern von Alf Björn, und musikalischer Leiter war Ernst Praetorius. Hamanns Behauptung, Tietjen habe die Sänger Maria Müller, Frida Leider und Herbert Janssen als »erstklassige Künstler« aus der Berliner Staatsoper nach Bayreuth mitgebracht (225), ist unzutreffend, denn alle sangen bereits zu Siegfried Wagners Lebzeiten bei den Festspielen. Absicht oder Schlamperei? Ein Blick in die Festspielchronik hätte Hamann auch belehren können, dass Richard Strauss 1894 in Bayreuth den »Tannhäuser«, nicht wie sie schreibt, den »Parsifal« dirigiert hat. Anja Silja debütierte in Bayreuth im »Fliegenden Holländer«, nicht in »Lohengrin«, wie Hamann fälschlich behauptet (595). Hamann erwähnt ein Verbot einer 1934 in Königsberg geplanten Inszenierung der Oper Der Schmied von Marienburg, aber die zugehörige Fußnote 179 sucht der Leser im Anhang vergeblich. Die Aufführung dieses Werkes an der Berliner Staatsoper wertet Hamann als »die glanzvollste, die ein Siegfried-Werk je erreichte« (316), während Augenzeugen, wie Daube und Söhnlein, diese Aufführung als besonders lieblos und missglückt bezeichnet haben; schließlich handelte es sich dabei um einen durch Umwertung der Handlungsträger, Striche und Ergänzungen unternommenen Versuch, die Oper der nationalsozialistischen Weltanschauung zu adaptieren. Auch führte nicht Tietjen selbst Regie, wie Hamann behauptet, sondern Edgar Klitsch. Obgleich Friedelind Wagner wiederholt betont hat, dass Page Cooper der Herausgeber, nicht der Koautor ihres Buches »Nacht über Bayreuth« war, dient Hamann Cooper zur Exkulpierung einiger ihr missliebiger Aussagen dieses Buches. Günther Schulz dagegen, laut Friedelind Wagner »Hitlers letzter Staatsanwalt«, wird bei Hamann zu einem »befreundeten Hamburger Richter« (546), der Winifred Ratschläge für ihre Verteidigung vor der Spruchkammer erteilt. Schließlich wird Hamanns Angabe, Siegfried Wagners Korrespondenz mit Engelbert Humperdinck befände sich in Winifreds Nachlass, den ihre Enkelin Amélie Hohmann hütet (630), angesichts der Autographen in der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt, sowie der in den Vorjahren erfolgten Veröffentlichung im Görres-Verlag Koblenz unglaubhaft. |
| Klatsch und Tratsch Das Buch bietet allerlei Klatsch und Tratsch. So erfährt der Leser, dass Verena mit einem »vierteljüdischen« Freund, Philipp Hausser, Friedelind in ihrem Exil in Luzern besuchte und Hausser anschließend in einer Novelle Verena mit der Schilderung einer »freizügigen Bettszene« outete, was die Androhung eines Artikels über die »Rassenschande im Hause Wagner« im Stürmer zur Folge hatte – dies jedoch wurde von Winifred über ihren direkten Draht zu Hitler verhindert (406f). Ein Brief Furtwänglers, der auf ein kurzes Verhältnis mit Friedelind schließen lässt, bleibt ohne Nachweis. Ihr Verlobter Gottfried von Einem hingegen taucht bei Hamann nur als Friedelinds »Freund« auf; Einems aufschlussreiche Memoiren hat Hamann offenbar für ihr Buch nicht mit herangezogen. Hamann gesteht Winifred zu, dass sie sich »in den letzten 30 Jahren eine eigene Version ihrer Vergangenheit zurechtgezimmert« und auch an diese geglaubt habe, wobei sie »gegen ihre Interessen darauf Wert legte, viel länger und intensiver mit Hitler befreundet gewesen zu sein« (618). So deutet die Autorin die Widersprüche, zu welchem Zeitpunkt Winifred Hitler das letzte Mal gesehen habe. Hamann geht davon aus, dass dies bereits 1940 war, danach empfing Hitler nur noch ihre Kinder gern und häufig; Hitler habe Winifred ihre wiederholten Interventionen zur Rettung von Juden schließlich doch übelgenommen. »In ihren letzten Lebensjahren«, so Brigitte Hamann, habe Winifred sich provokativ besonders positiv über Hitler ausgesprochen und »sichtbar für jeden Besucher« ein Bild Hitlers mit Widmung neben das Siegfrieds auf ihren Schreibtisch gestellt (633). Doch auch hierin irrt die Verfasserin, denn Winifreds Schreibtisch mit dem Widmungsfoto von Hitler ist bereits im 1969 erschienenen Kraft-Buch, als Abbildung aus dem Jahre 1931, zu sehen. Episodenhaft, aufgrund mehr zufälliger Brieffunde, zeichnet die Verfasserin Winifred Wagner als Gegnerin der Partei-Organisation der HJ und als Retterin zahlreicher Verfolgter, Juden, Homosexueller und Demokraten. So rettete sie den 72jährigen Paul Ottenheimer, laut Hamann ein »ehemaliger Darmstädter Kapellmeister« (452), und – was Hamann nicht erwähnt – Ottenheimer war der Uraufführungsdirigent der Sonnenflammen. Hingegen subsummiert Hamann fälschlich einige von Winifred, dank ihrer direkten Kontakte zu Hitler, gerettete Homosexuelle kurzum als Freunde Siegfried Wagners, so den in Ansichten und Ästhetik Siegfried Wagner geradezu diametralen Hans Severus Ziegler. Rettungsversuche startete Winifred auch für die ungarische Pianistin, Liszt-Schülerin und Siegfried-Freundin Alice Ripper, sowie für Nachkommen Franz Liszts, wie den französischen Geiger Rolland Trolley de Prévaux (475) oder Elsa Bernstein-Porges. Trotz Berufung auf die Publikation »Das Leben als Drama« (herausgegeben von Rita Bake und Birgit Kiupel, Dortmund 1999), erwähnt Hamann – wohl aus Rücksicht auf die Wagner-Familie – nicht, dass Elsa Bernstein die Tochter des illegitimen jüdischen Liszt-Sohnes Heinrich Porges und damit auch eine Verwandte der Wagners ist. Laut Hamann nannten auf Rettung Hoffende Winifred »Winihilf des 3. Reiches« oder auch »Die nationalsozialistische Mutter Gottes« (554). Unbekannt war vordem, dass sich Winifred auch als Willensverwalterin Cosimas verstand. Daher protestierte sie 1944, als man an Wagners Todestag in Bayreuth die Wesendonck-Lieder aufzuführen beabsichtigte: »in der Stadt, die ihre kulturelle Bedeutung neben dem Meister in allererster Linie seiner Gattin Cosima verdankt, empfindet die Familie Wagner es als taktlos, in der Öffentlichkeit gerade an einem solchen Gedenktag Richard Wagners in Verbindung mit Mathilde Wesendonck zu gedenken.« (473f) Die weit verbreitete Behauptung, Winifred sei von der Spruchkammer zum Fegen des Bayreuther Bahnhofsplatzes verurteilt worden, ist laut Hamann unzutreffend. Aber dass sie, nach der erfolgreichen Berufungsverhandlung und der Abdankung zugunsten ihrer Söhne, sich allem Einfluss auf die Festspiele enthalten habe, ebenso: Hamann zitiert einen Brief Winifreds über ihre Empfehlung eines Verwandten von Rudolf Heß als Parsifal-Darsteller (569). |
| Siegfried Wagner – Kosmopolit oder Nazi-Vorläufer? Insgesamt fällt Hamanns Tendenz auf, nun den – laut Goebbels – »schlappen« Siegfried Wagner zum Antisemiten und frühen Nazi zu stilisieren. Zwar führt Hamann korrekt an, dass Winifred ihre Briefe zunächst mit »Frau Siegfried Wagner« unterzeichnete, »aber bald ungeniert auf ‚Siegfried Wagner‘« überging, »was im Autographenhandel noch heute für Verwirrung sorgt« (47). Andererseits zitiert Hamann solche Briefe als Aussagen Siegfried Wagners und deutet Winifreds Aussagen – trotz klarer gegenteiliger Aussagen von Friedelind Wagner – als »das Echo ihres Ehemannes« (61). Natürlich gab es, wie in den Siegfried Wagner-Biographien zu lesen, antisemitische Äußerungen des national erzogenen, aber kosmopolitisch empfindenden Wagner-Sohnes, insbesondere in frühen Familienbriefen, wo er sich nur allzu deutlich dem offiziellen Sprachgebrauch der Familie anpasst. Wenig verwunderlich, dass der ob seiner Homosexualität immer wieder – sogar in seiner eigenen Familie, insbesondere durch seinen Schwager Houston Stewart Chamberlain – Repressalien ausgesetzte Wagner-Sohn, auch in späteren Jahren noch gezwungen wurde, – aber in scharfem Gegensatz zur Aussage seiner Werke – Äußerungen zu tun, die mit der Familienräson konform gingen. Siegfried Wagners grundlegender, eindeutiger und durch seine Publikation des Opernlibrettos Das Flüchlein, das Jeder mitbekam im Juni 1929 kund getaner Gesinnungswechsel erfolgte nach der Lektüre von Hitlers »Mein Kampf«: öffentlich warnte er hier vor »Wolf«, dem brutal-sadistischen Räuberhauptmann. Die auch von Winifred Wagner bestätigte Tatsache ist vielfach publiziert; aber was Brigitte Hamann nicht widerlegen kann, das verschweigt sie, in vorgefasster Absicht. Während Siegfried Wagner also klar umriss, was passieren würde, wenn Adolf Hitler an die Macht kommen sollte, glaubte seine Frau – laut Hamann –, dass »Wolf (…) von den Brutalitäten seiner Parteileute nichts wisse« (267). Hatte sie denn das in der Landsberger Haft auf ihrem Papier geschriebene Pamphlet Hitlers nicht gelesen? Der Versuch, Siegfried Wagner politisch in die Ecke der Rechten zu rücken, geht einher mit einer Verunglimpfung seines Künstlertums. Wider besseres Wissen behauptet Hamann, im »Parsifal« sei szenisch seit 1882 nichts verändert worden, während Siegfried Wagner wiederholt grundlegend neue, teilweise ausschließlich auf farbiges Licht gestützte Dekorationen für die Mittelakte einsetzte, im Gegensatz zu dem von ihm bewusst als archaisch beibehaltenen Gralstempel. Obgleich sein Opernerstling Der Bärenhäuter um die Jahrhundertwende 1899/1900 die überhaupt meistgespielte Oper war, spricht Hamann von einem grundsätzlichen Misserfolg der Opern Siegfried Wagners, die, wenn überhaupt, »nur gelegentlich, mit Hilfe reicher Gönner« (18) aufgeführt worden seien. Dass Siegfried Wagner, wie zahlreiche seiner Zeitgenossen – Pfitzner, Schreker, Thuille – unter dem übermäßigen Erfolg der Opern von Strauss litt und dessen Publizität für unangebracht erachtete, ist bekannt. Hamann stützt sich hierfür jedoch auf die durch wissenschaftliche Untersuchungen als Fälschung erwiesenen Aussagen im Interview von Catharina von Pomme-Escher aus dem Jahre 1911. Von Siegfried Wagners berühmten philosemitischen Püringer-Brief behauptet Hamann, er existiere nur in einer »undatierten Abschrift« und verschweigt, dass dieser offene Brief in der Deutschen Zeitung veröffentlicht wurde. Ein deutliches Beispiel für Hamanns Vorgehen bietet das Fertigstellungsdatum der Sinfonischen Dichtung Glück!; Markus Kiesel hat in seinen »Studien zur Instrumentalmusik Siegfried Wagners« (Frankfurt/Main 1994) erstmals darauf hingewiesen, dass das Enddatum der Skizze der 20. April 1923, mit Hitlers Geburtstag identisch ist, den Siegfried Wagner jedoch zu diesem Zeitpunkt noch nicht kannte. Bei Hamann, die sich auf Kiesel beruft, wird daraus: »Um keinen Zweifel an der Deutung des Stückes zu lassen, notierte Siegfried in der Partitur das Datum, an dem er diesen Teil abschloss: ‚20.4. (!)‘, also Hitlers Geburtstag.« Ein verschlimmbessertes, falsch gedeutetes Zitat! Die seinem philhellenischen Jugendfreund Clement Harris postum gewidmete Komposition trägt in der Partitur das Enddatum 10. Mai 1923, den »Himmelfahrtstag«, wie Siegfried ergänzend notierte. Die Kompositionsskizze hingegen wurde am 20. April abgeschlossen, an jenem Tag, an dem Harris im Jahre 1897 nach Pente Pigadia, wo er drei Tage später fiel, aufgebrochen war – aber das verschweigt Hamann. Siegfried Wagners Werke lassen sich durchaus als gigantische Tagbücher deuten, mit allerlei Rückschlüssen auf Aktualitäten der Tagespolitik. Bis auf eine Ausnahme verzichtet Hamann auf diese Möglichkeit: sie deutet die Inhaftierung Mutharts im Schmied von Marienburg als bewusste Anspielung auf Hitlers Inhaftierung in Landsberg; auch hier hätte sie ein Blick in den Autograph eines Besseren belehrt: die Partitur wurde bereits am 18. Februar 1920, also mehr als drei Jahre vor Hitlers Putsch und Inhaftierung, beendet. Ein Zitat aus Siegfried Wagners »Der Wohltäter« über die Wirkung der Tanzweisen von Johann Strauss ordnet Hamann dem Aufsatz »Meine Amerikafahrt« zu, um Siegfried Wagner als Jazz-Gegner zu zeichnen, und dies, obgleich Rudolf Hartmann (»Das geliebte Haus. Mein Leben mit der Oper«, München/Zürich 1975) die Vorliebe des Komponisten für Jazz und Jazz-Bars überliefert hat. Somit erfüllt Hamanns Vorgehen geradezu den Tatbestand vorsätzlicher Rufschädigung und Verleumdung – und diese Wirkung ist tatsächlich bereits einigen Feuilletons zu entnehmen. Unwillkürlich führt Hamann aber auch Fakten ins Feld, welche die bislang vertretene Sicht auf Siegfried Wagner als Kosmopoliten und Judenfreund bestätigen: Hitler bezeichnete es als »Rassenschande«, dass Siegfried Wagner ausgerechnet den Wotan mit dem jüdischen Sänger Friedrich Schorr besetzt hatte (140). Hitlers Fernbleiben bei der Siegfried Wagner-Woche in Weimar 1926, »zu Winifreds großer Enttäuschung«, steht in engem Zusammenhang zu Winifreds Klage über das mangelnde politische »Rückgrat« ihres Ehemannes (152), was Goebbels im Mai 1928 in seinem Tagebuch festhielt, mit den Worten: »Siegfried ist ein feiger Hund. Kriecht vor den Juden!« (166). Bereits im Januar 1925 teilte Winifred einer Freundin mit, »Fidi hat mir die Leviten gelesen und mir verboten, öffentlich weiter in der Bewegung tätig zu sein« (134), und einen Monat später habe Siegfried Wagner, statt der Einladung zu Hitlers Rede im Münchner Bürgerbräukeller Folge zu leisten, es vorgezogen, an Schwarzschwanenreich-Proben in Plauen teilzunehmen. Dass Siegfried Winifred einen Brief, den er im Mai 1924 von Hitler bekommen hatte, vorenthielt, hält Hamann trotz Friedelinds Aussage, »Papa hat mir gegenüber nie ein Wort über den Empfang dieses Briefes gesagt und ich wusste nichts über sein Vorhandensein«, für »wenig glaubwürdig« (628). Schließlich geht es ihr darum, Siegfried als echten Nazi-Vorläufer darzustellen. Über den 1926 erschienenen zweiten Band von Hitlers »Mein Kampf« schreibt Winifred Wagner »Sogar der Fidi liest ihn!!!!« (143). Dabei ist nicht nur das Wort »sogar«, sondern die durch dieses Winifred-Zitat belegte These, dass Siegfried Wagner Hitlers Pamphlet gelesen hat, bestätigt. Zugleich kann der Zeitpunkt seiner deutlich antinazistischen Stellung, die dann in der Schilderung von Wolfs Verbrechen im Flüchlein gipfelt, exakt mit Dezember 1926 datiert werden. 1927 heißt es in einem Brief Winifreds: »Am 25. spricht Wolf hier – ich graule mich schon davor – denn Fidi will mich nicht hineinlassen, und ich gehe doch hinein!!!!« (163) Siegfried Wagners Lieblingsneffe Manfred Gravina (Hamann macht ihn zum »Lieblingsvetter« (116)), Hochkommissar des Völkerbundes in Danzig, wird von seinem Nachfolger als »ein unabhängiger Ehrenmann mit Scharfblick und menschlicher Weitsicht« (213) eingestuft. Sein plötzlicher Tod mit 49 Jahren, 1932 in Danzig, erscheint seltsam. Ungeklärt bleibt auch, warum es zu der von Winifred intensiv angestrebten Ehe mit Heinz Tietjen, der »großen Liebe ihres Lebens« (329), nicht kam. Stand hier, trotz der im Dritten Reich üblichen Rechtsbeugung, das Testament Siegfried Wagners im Weg, das der Festspielleiterin die Wiederverheiratung untersagte? Immerhin überlegte Winifred im Oktober 1934, das neue Erbhofgesetz auf Wahnfried zu übertragen, ihren Erstgeborenen Wieland als Alleinerben einzusetzen und so Siegfrieds Testament, welches das Erbe aller vier Kinder vorschrieb, »hinfällig« zu machen (300). Dass Winifred Aufführungen der Opern Siegfried Wagners nach dem zweiten Weltkrieg untersagte und wohl auch zuvor schon verhindert hatte, verschweigt Hamann, obgleich ihr Zeugnisse hierfür vorlagen. Unhaltbar ist Hamanns Behauptung, Winifred sei mit Friedelind »zu Aufführungen von Siegfrieds Werken gefahren« (582), denn die einzige Ausnahme des Aufführungsverbotes bildete 1952 in Regensburg eine Inszenierung des Bärenhäuter. Geradezu absurd liest sich daher Winifreds entschuldigende Schutzbehauptung: »Einige Mark Tantieme werden wohl dafür für mich herausspringen!« (582) Das Siegfried Wagner-Haus blieb für Winifred auch nach 1945 weiterhin nur der »Führerbau« (587). Den Grazer Verleger Leopold Stocker, in dessen Verlag 1969 Zdenko von Krafts unsägliche Biographie »Der Sohn«, mit dem umfangreichen Anhang: »Die Nachfolge: Bayreuth 1931 – 1944« erschien, bezeichnet Hamann als »zum Kreis der Eingeweihten« gehörig (591). Die Intention Krafts wurde von Friedelind Wagner mit dem Wort »einen alten Nazi wollte er aus meinem Vater machen« umrissen, aber Hamann behauptet dem gegenüber, Kraft habe antisemitische Aussprüche Siegfried Wagners auf Betreiben Winifreds eliminiert. Sie zitiert in diesem Zusammenhang einen Brief Winifreds an eine Freundin, in welchem sie behauptet, ihr Mann habe »in seiner Wut gegen die jüdischen Wucherer« einen Operntext geschrieben: »Jephunes heißt der Gauner«. Abgesehen davon, dass Winifred oder Hamann schlecht gelesen haben, denn die Randfigur im unvertonten Liebesopfer (1917) heißt Jephumes, so ist die Schlussfolgerung Winifreds »Siegfried hätte sich damit in der Öffentlichkeit ein für allemal unmöglich gemacht« (609) absurd; diverse Überlegungen zur Tradition und zu antisemitischen Tendenzen der Wucherer-Figur in Liebesopfer und in Walamund (Erlolf) wurden in den Mitteilungsblättern XX und XXI 1992 der Internationalen Siegfried Wagner Gesellschaft e.V. (ISWG) untersucht. Während Hamann Siegfried Wagners Bedeutung als Künstler herunterspielt und ihn zugleich zu einem frühen Nazi stempelt, versucht die Autorin gleichzeitig, Winifred künstlerisch aufzuwerten. So behauptet sie, die Gattin habe Siegfrieds Partituren Korrektur gelesen; dies besorgte jedoch der Kapellmeister Karl Kittel, Winifred war hierzu musikalisch nicht in der Lage. Selbst Winifreds Kenntnis der Werke Richard Wagners reichte offenbar nicht sehr weit, denn sonst hätte sie nicht das erst in der Münchner Fassung von Wagner am Ende des »Fliegenden Holländers« angehängte Erlösungsmotiv noch 1959 als »Hauptmotiv« der Oper bezeichnet (587). Leitmotive wusste sie offenbar besser im literarischen Bereich einzustufen, wie 1954 in einem Brief an den Nazi-Schriftsteller Hans Grimm, mit der Bitte, »als Leitmotiv Ihres Buches ‚Deutschland erwache‘ (erweitert natürlich zu ‚Europa erwache‘ oder ‚Weißer Mann erwache‘)« bezeichnen zu dürfen (593). |
| Auch Hagiographisches über Chamberlain Auch was Chamberlain, den Prophet des Dritten Reiches angeht, bleibt Hamann kritiklos. Ungeprüft gibt sie Aussagen Chamberlains als Faktum wieder, so den Ausbruch seiner Nervenkrankheit, mystifiziert als Folge der Kriegserklärung Englands an Deutschland im ersten Weltkrieg. In Wirklichkeit litt der spätere Schwiegersohn Wagners schon Jahrzehnte zuvor an dieser Krankheit, die auch von seiner ersten Ehefrau Anna, die Chamberlain in seiner Autobiographie nur einen »engen Freund« nennt, gepflegt wurde. |
| ISWG Bei Publizisten, die sich mit der Familie Wagner besonders gut zu stellen trachten, fällt auf, dass in deren Literaturverzeichnissen die Publikationen der ISWG schlicht negiert werden, wie etwa in Luise Gunter-Kornagels »Weltbild in Siegfried Wagners Opern«. Denn die ISWG, als deren Ehrenpräsidenten – durch Vermittlung der Präsidentin Friedelind Wagner – zeitweise sogar Winifred und dann Wolfgang Wagner zählten, ist seit ihrer Gründung im Jahre 1972 ein der Familie missliebiger Verein, da die Ziele, zu denen die Wiederaufführung und die kritische Aufarbeitung des Oeuvres von Siegfried Wagner zählen, der Bayreuther Doktrin zuwider laufen. Um einen Brief Siegfried Wagners an den Bayreuther Rabbi Dr. Salomon zu zitieren, hätte sich Hamann nicht bis nach London wenden müssen, denn der Briefwechsel ist sowohl in den Mitteilungsblättern der ISWG, als auch auf den Internet-Seiten des Vereins komplett zugänglich. Brigitte Hamann, die im Nachwort betont, sie habe alles getan, um mit den vier Stämmen in ein gutes Verhältnis zu kommen, greift auf persönliche Aussagen von Verena Lafferentz, Wolfgang, Nike, Gottfried Wagner und Friedelind Wagners Erben Neill Thornborrow zurück. Die ISWG oder der ISWG nahestehende Veranstaltungen und Publikationen finden in Hamanns Buch keinerlei Erwähnung. Dennoch änderte Wolfgang Wagner seine der Autorin gegenüber anfangs bewiesene Offenheit, und der von Winifred an ihre Enkelin Amélie Hohmann übergebene Nachlass, darunter Briefe Toscaninis, Tietjens, Adolf Hitlers, Winifred Wagners und ihrer Familie, blieben für Hamann unzugänglich. |
| Wieland als KZ-Leiter Abrechnung hält Hamann auch über Wieland Wagner, den sie als Günstling Hitlers und als schlimmen Wendehals nach 1945 zeichnet. Seinem Umdenken schenkt sie offenbar keinen Glauben, liefert aber auch keine gegenteiligen Beweise. Sie outet Wieland als Leiter der Bayreuther Außenstelle des KZ Flossenbürg und zitiert Winifred, die nach dem Krieg noch auf Wielands Bedeutung als »Gaukulturrat« hinwies (554). Ästhetisch teilt die Autorin in der Wertung von Wieland Wagners revolutionären szenischen Neuerungen offenbar den scharf ablehnenden Standpunkt Winifred Wagners; Wielands Bühnenbilder zu den »Meistersingern« der Jahre 1943 und 1944 bezeichnet sie als die »mit Abstand die politischsten und regimefreundlichsten Bühnenbilder der Ära Winifred/Tietjen.« (465). Hamann verschweigt jedoch, dass Wieland zeitlebens regimekritisch bis regierungskonträr blieb und sich in seinen Aussagen und seiner Haltung gegenüber der regierenden CSU und dem Mäzenatenverein der »Gesellschaft der Freunde von Bayreuth« gegenüber geradezu feindselig verhielt. |
| Aign Neues Licht auf die Familie Aign wirft Hamanns Kapitel über Winifreds Entnazifizierung: »Der als Vorsitzender der Spruchkammer vorgesehene frühere Pfarrer Robert Aign trat kurz vor Prozeßbeginn aus gesundheitlichen Gründen zurück.« Zu Recht nimmt die Autorin bei ihm Befangenheit an, da »sein um ein Jahr jüngerer Bruder Walter (…) noch lebte (…, der) mit Siegfried Wagner viele Reisen« gemacht habe. Und »es war zu befürchten, dass in der aufgeheizten Atmosphäre alte Geschichten von der engen Beziehung der beiden Männer wieder aufgerührt würden, was weder im Interesse der Familie Aign noch der Familie Wagner lag.« (545) In einer Fußnote behauptet Hamann, die Vaterschaft Siegfried Wagners zu Walter Aign habe sich »bei einer Überprüfung als Konstruktion« herausgestellt und beruft sich dabei auf Walter Aigns Nichte Regine von Schenck zu Schweinsberg: »Er war das fünfte und letzte Kind seiner Mutter und sah seinem um ein Jahr älteren Bruder Robert zum Verwechseln ähnlich.« Obgleich dies bei derselben Mutter ja nicht ungewöhnlich ist, scheint der Hinweis auf die angebliche Ähnlichkeit Walter Aigns zu seinem Bruder Robert fast verräterisch; denn gerade auf einem Kinderfoto sehen die beiden, mit höchst unterschiedlichen Profilen, nun gerade keineswegs wie Brüder aus. Warum wohl glaubt die Autorin einer Nachverwandten, die ihr Auskünfte für das Kapitel über Winifreds Entnazifizierung erteilt hat, mehr als dem Musiker, Musikschriftsteller und Ehrenmann Walter Aign, der sich Freunden gegenüber zeitlebens als Sohn Siegfried Wagners zu erkennen gegeben hat. Hamann tut das Vater-Sohn-Verhältnis als Gerücht ab, negiert das 1987 erschienene Heft 34 der »Musik in Bayern«, wo die Biographie Walter Aigns erstmals umrissen ist. Da der Verfasser dieser Rezension von Frau Hamanns Behauptung bezichtigt wird, in der werkimmanenten Biographie »Siegfried Wagner. Genie im Schatten« (München 1988 und 1994) eine »Mär« verbreitet zu haben (651), seien folgende ergänzende Hinweise gestattet: dem Autor hat Aigns Freund Wolfgang Schmidt-Köngernheim, zuletzt Direktor des Peter-Cornelius-Konservatoriums der Stadt Mainz, ehrenstattlich erklärt, dass Aign sich ihm gegenüber stets als Sohn Siegfried Wagners ausgegeben hat. Und der Tenor Volker Horn bestätigt, dass die Tatsache der verwandtschaftlichen Beziehung Aigns an der Staatsoper Stuttgart allgemein bekannt war; insbesondere durch die geflügelte Äußerung des Kapellmeisters über Wielands Inszenierung auf der Bühne des Staatstheaters, »So hat unser Großvater das aber net wollen!« |
| Der Untertitel des Buches, »Hitlers Bayreuth«, löst sich ein, wenn man liest, dass bei den Bayreuther Festspielen der Aufführungsbeginn kurzfristig um eine volle Stunde verschoben wurde oder die Pausen für den abwesenden Hitler bis zu dessen Wiedereintreffen bis über zwei Stunden ausgedehnt wurden (290). Zahlreiche Irrtümer, Fehlurteile und bewusst falsche Darstellungen Hamanns werden möglicherweise demnächst in einem Buch des Mahler-Biographen Jonathan Carr zurechtgerückt; sein Thema ist »Die Familie Wagner«. Peter P. Pachl
|