| »Schuldlos schuldig« Nach seiner thematisch – scheinbar – unverfänglichen und – nicht nur, aber auch nicht zuletzt – deswegen so überaus erfolgreichen ersten Oper, Der Bärenhäuter (1899), und der als harmlose »Meistersinger«-Parodie aufgefassten zweiten, Herzog Wildfang (1901), deren Uraufführung in Tumult und Chaos unterging, hatte man so etwas wie Der Kobold von Siegfried Wagner nicht erwartet. Der Komponist wandte sich mit dem Sujet des ermordeten Kindes hier zum ersten Mal einer Thematik zu, die er in seinen späteren Opern – mehr oder weniger explizit – wiederholt aufgegriffen hat. Tiefwühlende Tragödie Anfang des 20. Jahrhunderts musste dieses Werk dem bildungsbürgerlichen Theaterpublikum wie auch den – dieses bedienenden – Kritikern unverständlich (Ferdinand Pfohl, Wien 1912) erscheinen, weil sie auf eine »richtige« Märchenoper (Julius Korngold, Wien 1922) gefasst waren und nicht auf eine moralisch wie emotional aufwühlende Tragödie, deren erschütternde Aussage in Wahrheit wohl kaum missverstanden, vielleicht gerade deshalb aber auch für nicht bühnentauglich erachtet wurde. Rund hundert Jahre nach der Uraufführung (1904) – und im 75. Jahr nach Siegfried Wagners Tod – besteht kein Zweifel mehr daran, dass eine adäquate Deutung dieses Werkes mit dem Instrumentarium der psychologischen Analyse möglich ist, das auf die Forschungsansätze und -ergebnisse von Sigmund Freud zurückgeht. Dieser ist während seines Aufenthaltes in Paris am gerichtsmedizinischen Institut schon 1885 mit Fällen von Kindestötung und -missbrauch in Berührung gekommen und dort höchstwahrscheinlich auch »Zeuge von Autopsien gewesen, die an den Leichen vergewaltigter und ermordeter Kinder vorgenommen wurden« (Jeffrey M. Masson: Was hat man dir, du armes Kind, getan? Sigmund Freuds Unterdrückung der Verführungstheorie, Reinbek 1984; S. 14, auch 50, 71). Derartige Verbrechen waren seit der Veröffentlichung Étude médico-légale sur les sévices et mauvais traitements exercés sur les enfants von Ambroise Tardieu im Jahre 1860 zumindest in der forensischen Literatur, die Freud nachweislich kannte, als Thema etabliert. Die dort geschilderten Delikte gegenüber – auch sehr kleinen – Kindern stehen übrigens den uns heute täglich medial allerorts vermittelten sowohl qualitativ, in Bezug auf ihre Grausamkeit, als auch quantitativ, hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Verteilung, in nichts nach. |
| Sigmund Freud Unter den Eindrücken in Frankreich entwickelte Freud seine Theorien Zur Ätiologie der Hysterie, die er 1896 seinen Kollegen in Wien vortrug; insbesondere zeigte er sich überzeugt davon, »dass unsere Kinder weit häufiger sexuellen Angriffen ausgesetzt sind, als man (…) erwarten sollte. Bei den ersten Erkundigungen, was über dieses Thema bekannt sei, erfuhr ich von Kollegen, dass mehrere Publikationen von Kinderärzten vorliegen, welche die Häufigkeit sexueller Praktiken selbst an Säuglingen (…) anklagen (…)«. (Wiener medizinische Blätter, 18. 4. 1896). In deutlichen Worten erklärte Freud die als »hysterisch« bezeichneten psycho-somatischen Störungen Erwachsener mit traumatisierenden Erlebnissen in ihrer Kindheit, die sich fast ausnahmslos auf einen sexuellen Missbrauch und die damit einhergehenden Verletzungen zurückführen ließen. Kurz darauf revidierte er dieses mutige, missverständlich »Verführungstheorie« genannte Erklärungsmodell jedoch wieder und distanzierte sich 1905 mit der Veröffentlichung seiner Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie offiziell und endgültig davon. |
| Paradigmenwechsel | | | Kobold-Skizze |
| Es mag sein, dass Freud sich von der Monstrosität der Misshandlungen und ihrer überraschend weiten Verbreitung erschreckt und zudem durch den Druck aus den Reihen seines eigenen Berufsstands dazu gedrängt fühlte, die Traumatheorie in ihr diametrales Gegenteil einer »Triebtheorie« zu verwandeln, wobei sich die Verführungsrichtung umkehrte und aus den Opfern (»schuldlos«) Täter (»schuldig«) machte. Bedeutsam für diesen Paradigmenwechsel Freuds war auch dessen ausführliche Korrespondenz mit dem befreundeten Hals-, Nasen- und Ohrenarzt Wilhelm Fließ, den Freud – ungeachtet seiner völlig aus der Luft gegriffenen Ideen einer »nasalen Reflexneurose« sowie der absonderlichen »Periodenlehre«, mit der er sogar den Zeitpunkt des Todes eines Menschen vorhersagen zu können glaubte – für einen originellen Wissenschaftler hielt. Zwischen 1900 und 1903 – just als Siegfried Wagner seine dritte Oper konzipierte und sich dabei noch gegen Einmischungsversuche der Mutter (!) behaupten musste (Brief Cosimas an Siegfried vom 11. 3. 1902) – diskutierte Freud vor allem mit Fließ die Entdeckung der anfänglich als real erkannten innerfamiliären Gewaltverbrechen an Kindern, die er am Ende nur als kindliche Fantasieprodukte ansah. In seiner – nicht unumstrittenen – Untersuchung (The Assault on Truth, 1984) äußerte Jeffrey Masson, der später durch scharfe Kritik psychotherapeutischer Theorie und Praxis heftige Kontroversen auslöste und sich dann der Tierpsychologie zuwandte, den Verdacht, dass Fließ selbst – während dieser Zeit der Korrespondenz mit Freud – sich an seinem fünfjährigen Sohn Robert verging. |
| Wie unter einer Lupe Die Problematik von Kindestötung und -missbrauch lässt sich wie unter einer Lupe in Siegfried Wagners Opus 3 betrachten: Hier scheinen alle aus einer dunklen Vergangenheit gemeinschaftlicher Verstrickungen miteinander vertraut zu sein – die merkwürdige Konstellation von Ekhart und Gertrud (I.3) sowie Gertruds früheres Verhältnis mit Friedrich (I/4) fallen gleich zu Beginn ins Auge. Wie schon seine literarischen Vorbilder (u. a. Johann Wolfgang von Goethe, »Der getreue Eckart«, auch »Der Erlkönig«), so weist auch der Ekhart Siegfried Wagners, der als »Leid-Deuter« (III.1) und »Mahner Kindern naht« (II.2), Eigenschaftsmerkmale eines Pädophilen auf. Als die arg- und ahnungslose Verena ausgerechnet von ihm Aufklärung über ihr Schicksal erwartet, ohne in ihm den Peiniger zu erkennen, kommt wie selbstverständlich auch die inzestuöse Komponente ins Spiel: nach ihrem seelischen Zusammenbruch (III.1) redet sie Ekhart nur noch mit »Vater« an (III.1, III.2). Um von sich selbst abzulenken und die Aufdeckung der verdrängten Traumata zu verhindern, treibt er Verena durch obskure Heuchelei (»schuldlos schuldig«) und den zynischen Verweis auf den Erlösungstod des Heilands in eine ausweglose Situation. Die Rechnung geht auf; indem Verena den für Friedrich bestimmten Dolch abfängt und stirbt, bleibt ihr wenigstens der qualvollere Tod im Feuer erspart. |
| Traurige Aktualität Gerade das also, was Siegfried Wagners dritte Oper den Zeitgenossen so unverständlich erscheinen ließ, macht heute ihre traurige Aktualität aus – vermutlich steht z. Zt. nirgendwo eine in dieser Hinsicht aktuellere Oper auf dem Spielplan als Der Kobold in Fürth: während der Recherche für diesen Beitrag im Juli und August 2005 beispielsweise verging kaum ein Tag ohne Meldungen zu einem der beiden Hauptthemen dieses Werkes, allen voran jener spektakuläre Fall einer Mutter in Brandenburg, die neun ihrer Kinder unmittelbar nach der Geburt ermordete und in Blumentöpfen begrub (Frankfurter Rundschau, 16. 7. – 30. 7. 2005). Ein Kinderbetreuer musste sich in Frankfurt wegen sexuellen Missbrauchs in 73 Fällen – darunter auch Kleinkinder auf dem Wickeltisch – verantworten; der Angeklagte war geständig und empfahl als Strafmaß für sich selbst 15 Jahre Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung. Zum Schutz der Gesellschaft veröffentlichte das Justizministerium in Washington – für jedermann zugänglich – im Internet personenbezogene Daten samt Fotos von Sexualstraftätern, die sich an Kindern vergangen haben. Ein Jugendfußballtrainer, gegen den bereits mehrere einschlägige Verfahren anhängig waren, bestätigte den erneuten Verdacht des Missbrauchs zehn- bis zwölfjähriger verhaltensauffälliger Jungen, durfte aber weiter arbeiten. In Schweden wurde einer von vier Männern vergewaltigten 13-Jährigen ein Drittel der Summe an Schmerzensgeld zugesprochen, die einer der beiden in zweiter Instanz freigesprochenen Täter als Haftentschädigung erhielt. Und als Ende Juli die Urteile im größten Missbrauchsprozess der französischen Justizgeschichte gegen eine Gruppe von 65 Erwachsenen in Angers verkündet wurden, nahm – auf Proteste von verschiedenen Seiten – Neckermann die angebotenen »String-Tangas für Kleinkinder« (Der Spiegel, 31/2005) wieder aus dem Sortiment. |
| Achim Bahr Quelle: Programmheft zur Aufführung der kobold am Stadttheater Fürth 2005 (mit freundlicher Genehmigung des Autors)
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