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Gebhard Redlin über George Bernhard Shaw’s Welt der Musik

 

Der Dichter, Essayist und Kritiker George Bernard Shaw ist den Wagner-Freunden bekannt als Vorkämpfer für das Werk des Bayreuther Meisters in Großbritannien, aber machen auch suspekt durch sein »Wagner-Brevier«, denn »The Perfect Wagnerite« deutet den »Ring des Nibelungen« als sozialistisches Drama. Bis heute meistgespielt ist seine Komödie »Pygmalion« in Frederick Loewes und Alan J. Lerners Bearbeitung als Musical »My fair Lady«.
 
Mit zahlreichen Abbildungen, Karikaturen und vor allem mit brillanten Absätzen aus Shaws Feder angereichert, hat Gebhard Redlin eine gut lesbare Shaw-Biographie geschaffen, die eine wahre Fundgrube an klugen und pointierten Statements zu Wagner, Mendelssohn, Brahms, Verdi, Boito, Charles Hallé, Joseph Joachim, Eugène Ysaye, Ignatz Paderewski, Clara Schumann, Hans Richter, Felix Mottl, Hermann Levi, Gustav Mahler, Arthur Sullivan und Richard Strauss bietet. Darüber hinaus zeigt der bis 1990 als Geschäftsführer der Norddeutschen Philharmonie tätige Autor mit großer Sachkundigkeit Verknüpfungen zwischen deutschem und englischem Musikkleben auf. 
 
Die Siegfried Wagner-Literatur zitiert gerne Shaws Kritik anlässlich Siegfried Wagners Londoner Dirigier-Debut, im November 1894 in der neuen Queens’s Hall in London, wo es heißt:

    Wir sind allesamt alte Knasterbärte gegen diesen jungen Mann; er besitzt nicht nur vollkommenes Verständnis für das Poetische an der Musik seines Vaters und seines Großvaters – in gewissen Punkten ein weit weniger beunruhigtes und getrübtes Verständnis als die Komponisten selbst –, sondern auch instinktive Zartheit und kraftvolle Geduld, männlich im besten Sinn des Wortes, wozu noch eine im besten Sinne weibliche Empfindsamkeit des Gefühls kommt. (…) Siegfried Wagner ist, vorsichtig gerechnet, als Dirigent sechshundertmal größer als Cusins, Costa, Carl Rosa und Vianesi zusammengenommen, wenn man noch Dr. Mackenzie, Dr. Viliers Stanford, Mr. Cowan, Sir Arthur Sullivan, Mr. Randegger und Signor Bevignani mit in die Waagschale wirft; doch was Richter betrifft, könnte er sich nichts anderes sagen, als was Michelangelo gegen Brunelleschi vorbrachte: Anders, aber nicht besser. (…) Ich kann nur hinzufügen, dass das Konzert (…) seine Begabung zur Interpretierung von Tonpoesie außer allen Zweifel stellte. Er wusste alles zu erfassen. Es war eine Freude zu sehen, wie er das Allerbeste aus den Spielern herausholte, ohne sich wie Richter als Befehlshaber einer Armee zu gebärden oder wie Mottl zum Angriff vorzustürmen; er ließ einfach dem Orchester reichlich Zeit, mitzugehen, und vertraute ohne Zagen und Befangenheit der Richtigkeit seiner Lesart. 

Gebhard Redlin zitiert in diesem Zusammenhang eine weitere Rezension Shaws. Sie vergleicht Siegfried mit Richard Wagner, den Shaw noch gut gekannt hat. Richard Wagners Leben erscheint Shaw als ein Kampf »mit wilden Tieren«:

    Und weil man ihn durch einen überfüllten Käfig schreiten sah, und alle Löwen sogar so umhertasteten, wie die Löwen bei Daniel, trat er auf, als wenn er sein Leben, so wie es war, in seiner Hand hielte und falls es so etwas gäbe – auf der Wanderschaft und der Suche nach seinem rechten Ort und seinem eigenen Volk sei. Wenn er nichts anderes zu tun hatte, schweifte er zu den Mauern und Ecken offensichtlich auf der Suche nach einer Tür oder Treppe oder einem anderen Ausgang aus dieser Welt, und wenn er sie nicht fand, kam er beunruhigt zurück und setzte sich entweder für einen Augenblick, bevor er eine neue Erkundung unternahm – oder, streichelte, da er ein gutherziger Mann war, plaudernd eines der Tiere.
     
    1883 ging Richard Wagner nach Venedig, und dort stieß er endlich auf den lang gesuchten Ausweg und wurde seither von sterblichen Wesen nicht mehr gesehen. Sie werden mir sicher glauben, dass mich ein gespenstisches Gefühl überrnannte, als ich zehn Jahre später in der Queens Hall in London das Phantom von Wagner sah, wie es sich seinen sicher geleiteten Weg durch die Menge auf dem Podium bahnte, mit Bunyans Worten: »durch die Wildnis dieser Welt wandernd.« Natürlich wusste ich genau, dass es in Wirklichkeit Siegfried Wagner, der Sohn Richard Wagners und der Enkel Franz Liszts war, denn war ich nicht mit der Absicht dorthin gekommen, um ihn zu sehen? Aber was da vor mir erschien, war der Vater wie er leibte und lebte, das alte Gesicht mit dem Ausdruck unsterblicher Jugend darin, die beharrliche Miene des Durchhaltens, der scheue Schritt und das unmissverständliche Gefühl des Übernatürlichen unter wilden Tieren.
     
    Diese Illusion verschwand nicht so schnell, wie ich erwartete. Sie kehrte immer aufs Neue zurück, als Siegfried dirigierte, und brach erst dann vollständig zusammen, als er sich lächelnd umdrehte, um sich für den Beifall zu bedanken und eine Reihe von jungenhafter Verbeugungen machte, die alle Eigenschaften freundlichen Nickens besaßen und ihn zu einem jungen Burschen in seinem frühesten Mannestum werden ließen. Als er wieder an die Arbeit ging, kehrte der alte Ausdruck zurück: etwas von dem drolligen Ernst eines altmodischen Kindes. Um eine Erklärung dafür zu haben, besinnt man sich darauf, dass sein Vater bei seiner Geburt über fünfzig, und seine Mutter, obwohl viel jünger, dennoch eine reife Frau war. Auch wie er die Musik anpackte, war sehr wagnerisch, sogar wagnerischer als bei seinem Vater. Denn Wagners Wurzeln lagen in einer Vergangenheit, die man bereits vor Siegfrieds Zeit ausgerissen hatte. Kein Mann, der wie Richard Wagner 1813 geboren wurde, hätte »Les Preludes« oder das »Siegfried-Idyll« so vollständig losgelöst vom mechanischen Schwung der alten Tanz- und Marsch-Zeitmaße, von denen ihre Formen abstammen, dirigieren können.

Redlin veröffentlicht auch Shaws Postskriptum aus dem Jahre 1937, das seine Rezension aus dem Jahre 1894 deutlich differenziert:

    Ich bedaure, hinzufügen zu müssen, dass der Zauber des ersten Konzertes von Siegfried in seinem zweiten nicht aufrechterhalten werden konnte. Das Orchester hatte alles gegeben, um sein erstes Auftreten zu einem Erfolg zu machen. Aber danach muss er mit seinen Musikern nicht mehr zurechtgekommen sein, denn beim zweiten Konzert waren sie nicht kooperativ, und der Abend war kein Erfolg. Siegfried, so schien es, war die Art von Dirigent, die sein Vater am meisten verabscheute: Ein Gentleman-Dirigent, was bedeutet, zuerst ein Gentleman und dann ein Dirigent, eine Anordnung der Dinge, die damit endet, dass er überhaupt kein Dirigent, sondern kurz gesagt: ein dirigierender Snob ist. Unsere Universitäten hatten eine Reihe von ihnen produziert. Das machte die Ankunft von Richter und Wagner 1877 in London zu einer Offenbarung, zu einer Revolution.
     
    Viele Jahre vergingen, bis Siegfried noch einmal nach London kam, um ein Konzert in der Albert Hall zu dirigieren. Er war inzwischen ein älterer, noch immer außerordentlich zuvorkommender Herr. Sein Dirigieren war zu bedrückend, um es als aufregend zu beschreiben, doch uns überfiel alle das Gefühl, als ob wir uns auf dem Gartenfest in einer Domstadt befänden, wo uns ein hoher kirchlicher Würdenträger willkommen hieß, der es versäumte hatte, uns einen Tee anzubieten. Im Programm gab es ein harmloses kleines Stück von ihm selbst: Der elegante Zeitvertreib eines vornehmen Menschen, der sich ein wenig mit Komponieren beschäftigt. »Wotans Abschied« und der »Feuerzauber« aus der »Walküre« wurden von ihm so behandelt, wie wir diese Musik noch nie gehört hatten und, so glaube ich, auch nie wieder hören werden. Der Widerhall der Posaunen im Finale Wotans »Wer meines Speeres Spitze fürchtet« klang wie ein Abendlied, langsam und süß, nur nicht sotto voce. Ich glaube, die Kritiker (ich war keiner mehr von ihnen) standen danach auf und verließen den Saal, denn der Mann schien hoffnungslos; und die Höflichkeit des Beifalls war tödlicher als Schweigen.
     
    Dann geschah etwas Unglaubliches. Der letzte Programmpunkt war das »Meistersinger«-Vorspiel, der letzte und, wie er sofort versprach, der schlechteste. Seine Getragenheit, seine Vornehmheit ließen mich daran zweifeln, ob ich nicht träume. Ich spürte, das Vorspiel würde sich mit Sicherheit im Sande verlaufen und vor lauter Trägheit enden, wenn er den Schlussteil nicht beschleunigte. Zu meinem Erstaunen gelang ihm jedoch das offenbar unmögliche Kunststück, es noch mehr zu verlangsamen. Und dies wirkte Wunder. Die Musik verbreiterte sich zu unbeschreiblicher Wirkung. Es war unfassbar, großartig. Die Zuhörer, die ihn zehn Minuten vorher am liebsten umgebracht hätten, wäre da nicht die Angst vor der Polizei gewesen, riefen ihn zum Schluss wie wild immer wieder und wieder und wieder auf das Podium zurück. Die nächste Nachricht die wir über ihn erhielten, war, dass er tot sei. Es war sein Schwanengesang.

Der am 2. November 1950 verstorbene irische Kritiker erscheint in Redlins profunder Abhandlung gleichzeitig als ein »Magier der Vernunft« voll sarkastischen Humors und als ein gefühlstiefer »Anti-Romantiker par excellence«. Redlin zitiert einen Ausspruch dieses Streiters für das Ideal der Kunst, der unseren Politikern in Zeiten des Kulturabbaus neu zu denken geben sollte: »Ein Gemeinwesen, das Chancen schafft, sich künstlerische Intelligenz anzueignen, wird nützlichere Bürger hervorbringen. Sie werden das Gemeinwesen weniger kosten als diejenigen, die nur geübt sind, oberflächliche Formen des Vergnügens zu schätzen.«
 

Peter P. Pachl
 

 


Gebhard Redlin: Die Welt der Musik des Bernard Shaw. Ein außergewöhnlicher Musikkritiker und seine Zeit. Peter Lang, Europäischer Verlag der Wissenschaften, Frankfurt 2001. 580 S., ISBN 3-631-37895-5

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