Zur späten konzertanten Realisierung eines Hauptwerkes Siegfried Wagner (1869 – 1930), der einzige Sohn Richard Wagners, hat seinen Vater in der Anzahl an Bühnenwerken überboten, und um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert war dessen erste Oper sogar der absolute Spitzenreiter im Spielplan deutschsprachiger Bühnen.
Das Vorspiel zu seinem Opus 15, Die heilige Linde vollendete der Komponist am 4. September 1922, die Operndichtung jedoch erst zwei Jahre später, und die Partitur schloss er sogar erst fünf Jahre später ab. Auf diese Weise schuf er die Voraussetzung für den dann tatsächlich auch eingetretenen, ungewöhnlichen Fall, dass ein Vorspiel zu einer Oper bereits vor deren Vollendung Popularität erlangt. Nachdem Siegfried Wagner das Vorspiel zu Die heilige Linde am 27. November 1924 in Bayreuth uraufgeführt und anschließend in zahlreichen Konzerten mit diversen Orchestern selbst interpretiert hatte, konnte sein musikalischer Exeget Paul Pretzsch im Jahre 1929 konstatieren, dass es »nicht an gewichtigen Stimmen fehlt, die dieses Vorspiel für das schönste der Vorspiele Siegfried Wagners erklären«.
In der Tat gibt es von keinem anderen Orchesterwerk Siegfried Wagners, einschließlich der Bärenhäuter-Ouvertüre, so viele Einspielungen auf Tonträgern, bei Rundfunkanstalten, auf Schallplatte und auf CD. Die im dritten Jahrhundert unserer Zeitrechnung angesiedelte Handlung propagiert die Durchdringung und gegenseitige Befruchtung kontroverser Religionen. Unter dem Einfluss des römischen Kaiser-Günstlings Philo lässt der barbarische König Arbogast, trotz der Warnung des alten Ekhart, den heiligen Baum seines Stammes, eine uralte Linde, fällen. Dem verblendeten Herrscher steht die Lichtgestalt des jungen Fritigern gegenüber, eines markomannischen Prinzen, der incognito das Nerthusfest, das Fest der Göttin der Fruchtbarkeit, besucht und sich dabei in Hildegard, die Gemahlin Arbogasts, verliebt.
In Rom nimmt Arbogast an ausgelassenen Festen und Circus-Spielen teil und wird vollends das Opfer der Intrige Philos. Im Isistempel wird er mit der römischen Kurtisane Autonoë vermählt.
Der in die Heimat zurückgekehrte König merkt zu spät seine Verblendung. Er fällt im Kampf gegen das römische Heer. Seine Witwe aber pflanzt eine neue, junge Linde.
Für das leicht sangliche Hauptthema der heiligen Linde scheint dasselbe Volkslied Pate gestanden zu haben, welches Engelbert Humperdinck auf seine Weise für das Lied vom kleinen Sandmann verarbeitet hat. Der Vergleich der – mit einem Vierteljahrhundert Distanz – erfolgten thematischen Verarbeitung durch Lehrer und Schüler schlägt deutlich zugunsten des Letzteren aus.
Der volksliedhaften Diatonik des Barbarenstammes steht die impressionistische, lineare Polyphonie und Bitonalität des Römischen Reiches gegenüber. Aber wie bei Wagner d.Ä. im »Tannhäuser« die musikalische Charakterisierung deutlich zugunsten der Unmoral des Venusberges ausschlägt, so erfährt auch der Hörer von Wagner d.J. deutlich, welcher Seite das Herz des erklärten Kosmopoliten und Wahl-Römers Siegfried Wagner schlägt, – auch wenn die Bogenform des Vorspiels wieder in jene ‚heimische Diatonik mündet, mit der es begonnen hatte.
Infolge des frühen Todes des Komponisten und Leiters der Bayreuther Festspiele, unmittelbar nach seiner – von Arturo Toscanini musikalisch begleiteten – Inszenierung des »Tannhäuser« im August 1930, blieb die Oper Die heilige Linde ungedruckt und unaufgeführt.
Am 17. Oktober 2001 erfolgt – als konzertante Uraufführung mit dem WDR Sinfonieorchester Köln, dem Rundfunkchor und international gefragten Solisten unter der musikalischen Leitung von Prof. Werner Andreas Albert in der Kölner Philharmonie – die späte Uraufführung der Oper Die heilige Linde von Siegfried Wagner. Eine weitere Aufführung der Oper Die heilige Linde am selben Ort steht am 19. Oktober 2001 auf dem Programm.
Der Dirigent der Uraufführung, Prof. Werner Andreas Albert, hat bislang zwölf CDs mit Werken Siegfried Wagners eingespielt, darunter die Gesamtaufnahme der Oper Sternengebot und die erste Gesamteinspielung der symphonischen Werke. Auf Veranlassung Alberts, der auch Präsident der Internationalen Siegfried Wagner Gesellschaft e.V. ist, wurde das Orchestermaterial zu Siegfried Wagners Spätwerk – mit Hilfe des WDR – in Australien hergestellt.
Der britische TV-Regisseur Barrie Gavin plant über die TV-Aufzeichnung hinaus einen Film über Siegfried Wagner und seine Oper Die heilige Linde als Zeitdokument, denn die Opern des Wagner-Sohns und Liszt-Enkels erscheinen als »gigantische Tagebücher in brisanter Zeit« (Siegfried Wagners Biograph Peter P. Pachl). |