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Gesamtaufführung sämtlicher Lieder

Internationale Siegfried Wagner Gesellschaft e.V., Bayreuth

 

Siegfried Wagners Liedkompositionen

Koproduktion des ppp-musiktheaters mit dem SFB am 27. April 1986
 

In den offiziellen Werkverzeichnissen zu Lebzeiten des Komponisten sind keine Lieder erwähnt, in den Werkverzeichnissen kurz nach seinem Tod wird dann das postum gedruckte Lied Weihnacht genannt. Seinem Freund, dem jüdischen Kritiker Ludwig Karpath hat Siegfried Wagner einmal berichtet, dass er 1892 auf seiner Fernostreise Lieder komponiert, sie aber wieder vernichtet habe, »weil es Lieder gerade genug gibt«.

Es ist zu bedauern, dass diese Kompositionen nicht erhalten sind, bezeichnen sie doch jenen entscheidenden Wendepunkt im Leben Siegfried Wagners, als er den Entschluss fasste, »der Architektur Valet zu sagen« und sich ganz der Musik zuzuwenden.

Siegfried Wagners Lieder: Mary Morgan, Sopran, und Frank Strobel, Klavier (pianopianissimo musiktheater; jpg: 17586 Byte)

Mary Morgan und Frank Strobel
tragen Siegfried Wagners Lieder vor

(Ausstattung: Tamara Oswatitsch, Regie: Peter P. Pachl)

Das erste Lied, zugleich die erste vollgültige Komposition Siegfried Wagners, entstand jedoch bereits im Juni 1890, als Abschluss seines Kompositionsstudiums bei Engelbert Humperdinck, auf ein Gedicht seines ihm auch freundschaftlich sehr intim verbundenen Schwagers Henry Thode, Abend auf dem Meere.

Das mit einer eigenen Titel-Vignette verzierte Lied widmete Siegfried »verehrungsvoll Frau Antonie Speyer«. Frau Speyer, eine professionelle Sängerin, war die Frau des Bankiers und Kunstfreundes William Speyer, in dessen Haus auch Brahms häufig verkehrte. Bei einer der Soireen im Hause Speyer in Frankfurt lernte Siegfried seinen Jugendfreund Clement Harris kennen. Zum allgemeinen Vergnügen kostümierte sich Siegfried bei Speyers häufig als Primaballerina und tanzte zur dargebotenen Musik. Mit der Vertonung von Ludwig Uhlands Frühlingsglaube im selben Jahr, trat Siegfried kühn in Konkurrenz zu Franz Schuberts Komposition dieses Gedichtes. Doch vermag sich Siegfried Wagners individuelle, sehr elegische Textausdeutung durchaus gegenüber der berühmten Vertonung zu behaupten.

Ein Pendant zu dem Thode-Gedicht Abend auf dem Meere bildet das Gedicht des 1872 verstorbenen Lyrikers und Schriftstellers Alfred Meissner, Abend am Meer, das Siegfried Wagner im Oktober 1890 in Berlin komponierte und »Unserem lieben Schäfer« widmete. (Bis jetzt war es mir nicht möglich, festzustellen, wer sich hinter diesem Widmungsträger verbirgt.)
 
Neben seinem Architektur-Studium in Berlin Charlottenburg komponierte Siegfried auch zwei Lieder auf Gedichte von Nikolaus Lenau, Frühlingsblick und Frühlings Tod, das er seiner Halbschwester Daniela Thode widmete. Frühlings Tod nimmt das Hauptthema seiner symphonischen Dichtung Sehnsucht vorweg, mit jenem Thema, das die wehende Trauerkunde und die Ahnung des Paradieses bezeichnet. Später erscheint dieses Thema dann – leicht abgewandelt – als Thema des Zaubersteins in Siegfried Wagners Lieblingswerk Der Kobold.

Wie die beiden Meer-Lieder, so bilden die drei Frühlingslieder einen kleinen Zyklus. Zum Abend am Meer existiert auch eine – allerdings nicht vollständige – instrumentierte Fassung des Komponisten. Dieses Lied darf als früheste Studie zum Bärenhäuter angesehen werden, wie auch der Frühlingsblick als eine Paraphrase des Fazits der Opernhandlung von Opus 1 wirkt. Dort heisst es in Luises Schlussgesang:

    Wem ein reines Herz ward beschieden,
    fehlt er auch und muss er irren,
    ihren Segens-Schutz hienieden
    kann ein Laut'rer nie verlieren.

Für den Musiker Siegfried Wagner klingt die Liebeskunde im Frühlingsblick eben so, wie das Walten der guten Geister und Schutzengel.

Die Berliner Zeitschrift »Die Woche« veranstaltete im Jahr 1903 ein Preisausschreiben für »moderne Volkslieder«. In einem Sonderheft, betitelt »im Volkston«, wurden zunächst »dreißig Werke der ersten deutschen Komponisten« zusammengefasst, die in einem Wohltätigkeitskonzert, im Berliner Neuen Königlichen Opernhaus, erklangen. Doch stellte sich bei dem Konzert heraus, dass die meisten dieser Kompositionen reine Kunstgesänge sind und den Zweck eines volkstümlichen Liedes zur »Stärkung der Hausmusik« nicht erfüllen. Siegfried Wagner hatte für diesen Wettbewerb sein im Jahr 1897 komponiertes Lied Schäfer und Schäferin eingereicht, das nun durch die »Woche« eine Verbreitung in vierzigtausend Exemplaren fand. Auch Siegfried Wagners Komposition muss als Kunstlied gelten, selbst wenn der Text einem überlieferten Volkslied entstammt.

Für über zwanzig Jahre komponierte Siegfried dann ausschließlich Opern. Ein einziges Mal enthält eine Oper ein Lied, das dann auch separat, für Singstimme und Klavier, erschien: das Vogellied der Verena aus dem Kobold. Um in die Komödiantenbande aufgenommen zu werden, singt Verena dieses Lied vom blinden Vogel, der durch sein »zu Herzen gehendes« Zwitschern auf seine Notlage aufmerksam machen will: die Kunst als Kompensation von Leid.
 
Sopran Mary Morgan und Pianist Frank Strobel nach dem Konzert (pianopianissimo musiktheater; jpg: 17864 Byte)

Mary Morgan, Sopran,
Frank Strobel, Klavier

Ein scherzhaftes Pendant zu Richard Wagners »Siegfried Idyll« erlebte zu Weihnachten 1918 in Wahnfried seine häusliche Uraufführung: im Wahnfried-Idyll geht es um die unermüdliche Spielwut des knapp zweijährigen Sohnes Wieland und um das Morgengeschäftchen der Tochter Friedelind. Aus dem »Simplizissimus« wird die Gestalt des deutschen Michel herangezogen, der auf alles hereinfällt und den »eitlen Flitter-Flimmer« für die echte Freiheit hält. Der Komponist zitiert dabei ein Thema Frieders aus An Allem ist Hütchen Schuld ! – Hinweis darauf, dass auch er sich durch die Revolution und die Abschaffung der Fürstenprivilegien eine Zeit lang die Freiheit erhofft hatte und nun zu denen gehört, die »reingefallen« sind. 
 
Ein sehr seltsames Hochzeitsgeschenk bereitete Siegfried Wagner im November 1919 seinem Freund Dr. Günther Holstein, mit dem er im Krieg wiederholt über die politische Lage diskutiert hatte. Er vertonte Holsteins blutgeschwängertes Gedicht Nacht am Narocz das sich der Amateur-Dichter offenbar ausdrücklich gewünscht hatte. Als auf dem Schlachtfeld über Leichen der Heiland erscheint, ertönt in der Klavierbegleitung das Thema des Glaubens aus dem Heidenkönig. Die musikalisch durchaus hochwertige, dem Text aber inadäquate Komposition, original für Tenor gesetzt, wurde zwei Jahre später im Bayreuther Markgräflichen Opernhaus von einem Bariton zur Uraufführung gebracht.

Eine heitere Komposition auf einen eigenen Text schrieb Siegfried Wagner zur nächsten anstehenden Hochzeit, im Sommer 1922, Ein Hochzeitslied für unseren Erich und seine liebe ‚Dusi. Diese inspirierte, qualitativ weit über anderen Gelegenheitskompositionen stehende Komposition im 2/4-Takt lässt Wittichs Sonnengesang aus Banadietrich anklingen und kontrastiert Luises Vertrauen auf Schutzengel (Der Bärenhäuter) mit dem Treiben des Kobolds Hütchen. Fazit ist die – in Siegfrieds sprichwörtlich verflixtem, siebentem Ehejahr gewachsene – Erkenntnis, dass die Liebe nach einer Streitigkeit oft besonders schön sein kann.
 
Auch das Dryadenlied aus dem Jahr 1927 nimmt musikalisch und textlich Bezug auf die Hütchen-Oper. Die wahre Begebenheit im Hamburg-Volksdorfer Haus Dryade, wo Siegfried Wagner geehrt werden sollte, mutet wie ein bürgerliches Satyrspiel auf den dritten Akt der Märchencollage An Allem ist Hütchen Schuld ! an: Bei einem Empfang nach einem Konzert in Hamburg erscheinen alle Gäste als Märchenfiguren gekleidet, jeder überreicht ein Lorbeerblatt, das zu einem Kranz gebunden wird, einer jedoch – und dies war nicht vorgesehen – rückt den Thronsessel vom vorgesehenen Platz, verdirbt die Inszenierung der Hausherrin und erntet ihren Zorn …   

Die »Hamburger Nachrichten« forderten Siegfried Wagner auf, ein Lied für ihre Weihnachtsbeilage zu komponieren. Die Wahl des Textes überließ Siegfried seiner Frau, und die wählte dafür ein süddeutsches Gedicht aus dem 17. Jahrhundert. Die Komposition für eine hohe Stimme erweist Siegfried Wagners Fähigkeit, Stimmungsvolles durch interessante harmonische Rückungen gut zum Ausdruck zu bringen. Bei den Worten »Ein schönes Kind liegt dort in der Krippe« greift der Komponist das Thema der Friedensbotschaft aus Opus 10 auf, das auch im vierten Satz seiner Symphonie erklingt.

Das Lied Weihnacht erschien als faksimilierte Weihnachtsbeilage im Dezember 1927 in den »Hamburger Nachrichten« und postum – in tiefer und originaler Lage – bei Max Brockhaus in Leipzig.

»Klicken« Sie hier, um das Deckblatt der Komposition in einem neuen Fenster anzuzeigen!  (jpg: 24281 Byte)
Eine bürgerliche Opernszene à la »Faust« en miniature stellt Das Bales-Tänzchen dar, »Eine Walzer-Vision: ‚Wie Heinrich zum ersten Male mit dem Jretchen getanzt hat! (Ob es in Jodesberg war, weiß ich nicht!) Hellseherische Inspiration von Siegfried Wagner, Bayreuth 1929«. Die Komposition, in der kaum gesungen, sondern eben in erster Linie getanzt wird, ist ein Geschenk des Komponisten an seine Freunde Heinrich und Grete Bales, mit denen er mehrere Rhein-Reisen unternommen hatte. Die Komposition im »wohlig wiegend wogenden Walzer-Tempo« ist zugleich eine Hommage à Johann Strauß, über den Siegfried bekannte: »Wenn ich eine Johann-Straußische Melodie höre, da reißts mich in allen Gliedern, aber nicht von Podagra oder Rheumatismus, sondern von Lebensfreudigkeit.«
 
Siegfried Wagners 1913 komponierte Orchester-Ballade Das Märchen vom dicken fetten Pfannekuchen darf mit Fug und Recht auch zu Siegfried Wagners Liedschaffen gerechnet werden, und dies nicht nur aufgrund der vom Komponisten autorisierten Fassung für Gesang und Klavier. Ein Pfannekuchen läuft drei alten Damen, seinen Erzeugern, in den Wald davon. Auch nach abenteuerlichen Begegnungen mit einem jungen Häschen, einer dummen Kuh, einem zagen Reh, dem gierigen Wolf und der groben Sau, die ihn allesamt vereinnahmen wollen, zieht er sich wieder in den Wald zurück. Dann begegnen ihm drei verhungerte Kinder. Sie stehen für die Zukunft, stellen aber auch eine neuere Variante der drei Göttinnen dar, zwischen denen Herakles im griechischen Mythos zu wählen hat. Der Pfannekuchen wählt nicht; er entscheidet sich für alle drei, bricht »sich in Stücke drei«.

Dieses Märchen, in der Sammlung »Neue Märchen nach Grimm«, hatte Siegfried Wagner ganz besonders gefallen, wohl weil er im Lebensweg des Pfannekuchens seinen eigenen wiedererkannte: wie der Pfannekuchen den alten Weibern, so hatte er sich der Dominanz der Mutter und der älteren Schwestern entzogen und sich im Jahre 1882 auf eine befreiende, abenteuerliche, große Reise begeben. Dabei hatte er allerlei erlebt – und in diesem Zusammenhang scheinen die Bezeichnungen der Tiere auch auf Menschen anwendbar. Allerdings hatte er sich, wie der Pfannekuchen, von niemandem einverleiben lassen, hatte sich weder männlich noch weiblich gebunden und sich schließlich in drei Teile gespalten: in den Festspielleiter, den Dichterkomponisten und in die Privatperson. »Kantapper kantapper zum Wald hinein«, heisst es in Siegfried Wagners Version des Märchens vom dicken, fetten Pfannekuchen über den Lebensweg der begehrten Speise, die eben nicht läuft, fliegt oder schwimmt, sondern kantappert. In diesem Wort versteckt sich, in sächsisch-fränkischem Gemisch, die Aussage »(er) kan(n) tapper(n)«.

Siegfried Wagners Lieder drangen erst ins Bewusstsein der musikliebenden Öffentlichkeit, als Hanne Lore Kuhse im August 1966 einen Liederabend im Markgräflichen Opernhaus Bayreuth gab und die Lieder Schäfer und Schäferin, Abend am Meer und Frühlingsblick mit in ihr Programm aufnahm. Für ein Konzert in London, das von der BBC übertragen wurde, ergänzte sie ihr Repertoire noch durch Weihnacht und Das Märchen vom dicken fetten Pfannekuchen.

Seither erfreuen sich Siegfried Wagners Lieder wachsender Beliebtheit. Das verschollene Lied Frühlings Tod wurde erst 1985 vom Verfasser, zusammen mit Frank Strobel, anhand der schwer entzifferbaren Kompositionsskizze im Siegfried-Wagner-Nachlass des Richard-Wagner-Nationalarchivs in Bayreuth verifiziert und wieder aufführbar gemacht; es erklang seither allerdings bereits mehrfach in Konzerten.


Quelle: Programmheft des szenischen Konzerts, pianopianissimo musiktheater, April 1986 (mit freundlicher Genehmigung des Autors)
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