| Ende und Vollendung Die Utopie des Schlusses liegt nur als Text vor. Siegfried Wagner hat die Oper bis etwa zur Hälfte komponiert. War es die im Angesicht der gesellschaftlichen Realitäten, im Angesicht des aufkommenden Faschismus Ende der 20er Jahre immer evidenter werdende Unglaubwürdigkeit einer solchen humanen Utopie, die Siegfried Wagner innehalten ließ? 1925 schrieb er den Text der Oper und komponierte im selben Jahr auch das Vorspiel. Quasi in Form einer sinfonischen Dichtung entwickelt sich aus einer Keimzelle, dem Wahnopfer-Hauptthema in der ruhigen Einleitung, durch motivische Weiterentwicklung und Abspaltung das gesamte musikalische Material der folgenden Opernhandlung. Erst 1928, zwei Jahre vor seinem überraschend frühen Tod, setzte sich Siegfried Wagner wieder an die Partitur und es entstanden der 1. Akt sowie ein großer Teil der ersten Szene des 2. Aktes. Eine erste, vorläufige, eine scheinbare Konfliktlösung ist hier erreicht. Das von Argimund zum dritten Mal errichtete Tor steht nun, doch das eigentliche Verhängnis, der ungesühnte Kindesmord – das Wahnopfer –, bedroht alles weitere. Genau hier bricht die Komposition ab. Das musikalische Material, exponiert im Vorspiel, hat mittlerweile bereits einen Grad der Aufeinander-Schichtung, des Ineinander-Verkeiltseins, aber auch – in dialektischer Gegentendenz – der gegenseitigen Ausschließung, der Selbstaufhebung, der Erschöpfung erreicht, dass eine von der weiteren Handlung geforderte, klar ziselierte Strukturlösung und -einfachheit zum Schluss hin als geradezu unmöglich erscheint. Die chromatische Zerfaserung, die dramatische Zuspitzung ist nicht mehr zurückzunehmen, nicht mehr in Harmonie umkehrbar. Spätromantischer Musikgeist ist an seine Grenze gelangt. Der Autor, die Figuren – auch wir – verharren in ratloser Verwirrung, Schlimmstes ahnend. Bei den Worten: »Reichlich belohne der Himmel dich!« stockt der Musik der Atem. Wie die morbide Weimarer Parteiendemokratie vor der wachsenden Faschisierung des Landes kapitulierte, wie Adolf Hitler auf Einladung von Winifred Wagner, der Frau Siegfrieds, Einzug ins Haus Wahnfried halten konnte (obwohl sich Siegfried heftig dagegen wehrte), wie also der massenergreifende faschistische Wahn auch Bayreuth zu überfluten drohte, und Siegfrieds illusionsvolles Motto: »Hier gilt's der Kunst!« sich zunehmend als Trugschluss erwies, so mochte in der sensiblen Psyche des Komponisten der Wille zur Beendigung des Wahnopfer einer Resignation gewichen sein, die ihn – gerade als diese Partitur so sichtlich zum Schlüsselwerk, zum Menetekel der Zeit werden wollte – die Feder aus der Hand legen ließ. Den Wahn konnte er nicht mehr hindern, zur illusionären Überblendung, zur basislosen Utopie aber war er auch nicht imstande. Den Begriff »Wahn« als Denk- und Handlungsmodell, als auch Ängste begründendes Stichwort hat Siegfried Wagner von seinem Vater »geerbt«. In dessen Leben, in dessen Werk steht es wieder und wieder als Gleichnis für Verblendung, für verhängnisvolle geistige und psychosoziale Verstrickung, der man nur durch das Opfer von Humanität entrinnen kann. Wo Vernunft nicht mehr (oder noch nicht) fähig ist, Leben zu bestimmen, da hat Irratio, haben Aberglauben und Wahnpsychosen alle Chance, Unheil zu bewirken. Wie aber kann menschlicher Sinn in der Kunst sich einer immer unbeherrschbarer, undurchschaubarer und fremder werdenden sozialen Realität gegenüber behaupten? Siegfried Wagner fand in seinem unvollendeten Opus 16 darauf keine Antwort. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass einige weitere bedeutende Opernwerke der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts aus offensichtlich ähnlicher Problemstellung heraus gleichfalls nicht vollendet wurden: Puccinis »Turandot«, Schönbergs »Moses und Aron« oder Bergs »Lulu«. Mögen die Gründe im einzelnen auch unterschiedlich gelagert sein, so ist doch unverkennbar, dass die Komponisten einer harmonisierenden Schlusslösung zunehmend misstrauten, ein »gutes« Ende nicht mehr bewältigten oder gar nicht erst anstrebten, vor der Schönheit eines Schlusses als gar zu schön, vor der Furchtbarkeit eines Schlusses als gar zu furchtbar zurückschreckten. Ihre humane Welthaltung erzwang – bewusst oder unbewusst – ein Innehalten; die Aufrichtigkeit und Unbedingtheit ihrer künstlerischen Überzeugung schloss eine Vollendung im klassischen Ästhetikverständnis aus. Und eben darin liegt ihr eigentlicher künstlerischer Wert; sie wurden gerade wegen ihrer Unvollendetheit zu einzigartigen Zeitdokumenten. Paradigmatisch hat diesen Vorgang wenige Jahre später Theodor W. Adorno in seiner »Philosophie der neuen Musik« beschrieben: »Das geschlossene Kunstwerk erkannte nicht, sondern ließ in sich Erkenntnis verschwinden. Es machte sich zum Gegenstand bloßer Anschauung und verhüllte alle die Brüche, durch welche Denken der unmittelbaren Gegebenheit des ästhetischen Objekts entweichen könnte … Das ist die Schwelle der neuen Kunst. So tief faßt diese die eigenen Widersprüche, dass sie sich nicht mehr schlichten lassen … Erst im fragmentarischen, seiner selbst entäußerten Werk wird der kritische Gehalt frei … Die Liquidation der Kunst – des geschlossenen Kunstwerks – wird zur ästhetischen Fragestellung …« Die unvollendete Partitur Wahnopfer erfüllt diesen Tatbestand; die Unabgeschlossenheit bezeichnet ihre Wahrhaftigkeit – das Fragment ist die Wahrheit. Eckart Kröplin
Quelle: Programmheft Festspiele Rudolstadt 1994 (mit freundlicher Genehmigung des Autors)
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