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»Ein Gottesgericht« als Zeitstück

Internationale Siegfried Wagner Gesellschaft e.V., Bayreuth

 

Ironie und Utopie

Die Idee des geopferten Kindes findet, nach Schwarzschwanenreich, nochmals Niederschlag in einer Operndichtung Siegfried Wagners. Schuld und Sühne, Wahn und Aberglauben bilden auch im Wahnopfer wieder die Grundpfeiler der Handlung. Ingunthis ist eine »wahnbetörte« Frau, eine politisch Verblendete. »Ein Gottesgericht«, so der ursprüngliche Titel des Opus 16, soll die Entscheidung bringen, ob Ingunthis die Wahrheit gesagt hat. Sie hat nicht gelogen, aber die halbe Wahrheit reicht nicht aus; der Sieger im Gottesgericht ist doch verwundet und droht, an dem giftigen Streich des Gegners zu sterben.
 
Gereizt hat den Komponisten die Person des Architekten. Er selbst wollte diese Laufbahn einst einschlagen, und jetzt denkt er an die Erweiterung des Festspielhauses. Zugleich steht in Bayreuth 1925, als Wahnopfer konzipiert wird, eine szenische Erneuerung des »Parsifal« bevor, auch der »Klingsor-Turm«, ein Turm des Bösen, wird neu gestaltet. Siegfried Wagner, als Festspielleiter, muss einen Entrüstungssturm der Alt-Wagnerianer befürchten. In der ersten Prosaskizze zum Wahnopfer ist der Baumeister noch »ein aufgeblähter Hohlkopf, die Autorität in der Stadt, den alle für unfehlbar halten [… und] hat absichtlich den Pfeiler des Tores über eine Quelle gebaut«. Bereits in der zweiten Niederschrift der Dichtung ist aus der negativen Figur der positive Argimund geworden, hinter dem sich Siegfried offenbar wieder einmal selbst verbirgt. Argimund weiß nichts von einer Quelle unter dem Torpfeiler, im Gegenteil: seine Gegner haben sein Bauwerk sabotiert, bereits wiederholt dafür gesorgt, dass der Bau einstürzen musste. Und nun soll ihm ein Verbrechen angehängt werden, von dem er erst recht nichts ahnt.
 
Wie Rainulf in Opus 14, belastet auch ihn ein Versprechen, das ihm die sterbende Mutter abnahm, und er rechnet mit der Verstorbenen ab, die »von Verleumdung und Lüge umwoben« war. Aus dem Friedensengel klingt das Motiv an, dass »kein Priester die Erde geweiht« hat, in der Eriulf das als Wahnopfer gestorbene Kind verscharrt. Auch Eriulf trägt Züge des Dichters. Er fragt, ähnlich wie Helferich in Sternengebot: »Waltet Zufall in meinem Geschick?«, und rechtfertigt sich mit ähnlichen Worten wie Helferich:
 

    Der Falschheit kannst du mit Recht mich zeihn,
    ich spielt' ein zweifach zweifelhaft Spiel.
    Doch der Wahrheit den Weg zum Licht zu brechen,
    vor Augen hatte ich hohes Ziel.

     

Er ist nicht mehr »Sternengebots Vollstrecker«, sondern nur noch ein »beklagenswerter Vollstrecker« einer höheren Macht.
 
Die Sabotage der Verschwörer lässt an General Ludendorffs Dolchstoßlegende denken und damit, beim dritten Aufrichten des Tores, an ein drittes Reich. Doch entscheidend ist die Position, die Siegfried in dieser Oper bezieht. Wie Galilei in Bertolt Brechts »Leben des Galilei« Andrea auf die Meinung: »Unglücklich das Land, das keine Helden hat« antworten wird: »Nein. Unglücklich das Land, das Helden nötig hat«, so ironisiert Siegfried den Ruf der Zeit nach einem starken Mann:
 

    EULALIA: (pathetisch)
    Die Zeit schreit!
     
    AGAPANTHUS: (sein Ohr spitzend, als sei er schwerhörig)
    Wer tut was?
     
    EULALIA:
    Die Zeit schreit!
     
    AGAPANTHUS: (dreht sich um)
    Ich hör nichts.
     
    EULALIA:
    Die Zeit schreit nach einem Helden!
     
    AGAPANTHUS: (als ginge ihm ein Licht auf)
    Ja so, freilich! Jetzt fasst es mein Gehör.
    Sie schreit nicht nur, sie brüllt schon mehr!
     
    EULALIA:
    Sie schreit in Qual!
    Memmen überschwemmen diese Lande.
    Memmen kommen! Taten-Segen.
    Memmen stemmen sich dagegen,
    Memmen schlemmen! Feige Bande!
     
    AGAPANTHUS:
    Grauenhaft! Verfluchte Memmen!
    (mit Humor, aber so, dass Eulalia es für Ernst hält)
    Sie schwemmen, kämmen, stemmen, schlemmen!
     

Agapanthus, der Wunderdoktor mit dem Vornamen Sigisar, trägt Siegfrieds Züge – nicht nur, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Richard Wagner eine Zeitlang plante, seinen Sohn zum Wundarzt ausbilden zu lassen. Auch Siegfried wird häufig als »Memme« beschimpft, da er sich nicht wie die anderen Bayreuther Ideologen am Kampf um die Reinerhaltung der Rasse beteiligt. Eulalia aber ist eine Hexe, die – verglichen mit ihren zahlreichen Vorgängerinnen in Siegfrieds Opern – kraftlos ist, nur noch der schemenhafte Umriss einer Idee, ja beinahe schon eine komische Alte, die sich ständig auf ihr »weibliches Zartgefühl« beruft, die sogenannte »Muhme Süßblick«. Alte Frauen – wie einst unter der Vorherrschaft seiner Mutter Cosima – stellen zu diesem Zeitpunkt bereits keine Gefahr mehr für Siegfried dar. Agapanthus hält Eulalia den Spiegel vor und weist sie sachte darauf hin, dass sie bereits die Wechseljahre erreicht hat; die Gefahr liegt nun für Siegfried bei den Verirrungen der jungen Frauen.
 
In diesem Zusammenhang mag von Belang sein, dass Siegfried Hitler durch seine Frau Winifred ausdrücklich bitten lässt, den Festspielen fernzubleiben, dass dieser aber – ohne Siegfrieds Wissen – in Wahnfried verkehrt: »Als kurz nach Hitlers Entlassung aus der Festung im Februar 1925 die Partei neu gegründet wurde, ging Mutter nach München und nahm an der ersten Versammlung teil. Sie fuhr dann mit Hitler und seinen Adjutanten nach Wahnfried und hielt sie dort über Nacht verborgen. Niemand wusste von diesem Geheimnis außer Wieland, der es so gut hütete, dass ich es ihm während dreizehn Jahren nicht entreißen konnte.« So erzählt Friedelind Wagner in ihren Memoiren und fährt fort: »In jenen Tagen war Hitler in ständiger Furcht um sein Leben, und so trafen wir ihn stets an andern Orten. Mutter nahm uns mit zu Zusammenkünften in kleinen Restaurants außerhalb Bayreuths oder irgendwo im Wald. Zuweilen kam Hitlers Wagen nach Mitternacht angefahren, und er schlich sich heimlich ins Haus. So spät es auch war, er versäumte nie, ins Kinderzimmer zu kommen und uns grausige Geschichten von seinen Abenteuern zu erzählen … Er zeigte uns seinen Revolver, den er, natürlich unerlaubterweise, trug – eine kleine Waffe, die, obwohl er sie mit der Handfläche bedecken konnte, zwanzig Schuß enthielt.« 
 
So gesehen ist der Schluss der Oper sehr utopisch. Argimund hat die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllt. Danach aber will er mit jener Stadt, für die er dies vollbracht hat, nichts mehr zu tun haben und mit Ingunthis fortgehen:
 

    Hinter uns liegt das Tor der Tränen,
    das nie unser Auge mehr erschaut.
    Vor uns wölbt ein andres sich:
    dem großen Meister, der es erbaut,
    dem stürzt es nimmer ein.
    Ein gewaltig' Gewölbe, sternbesät,
    von stämmigem Unterbau getragen,
    hierdurch die Wandrung geht.
    Wer reines Herzens, darf es wagen,
    es führt in ein gesegnet Land:
    das Tor der Hoffnung ist es benannt,
    durch Leiden gereinigt, in Liebe geeinigt!

     

Einmal nur »richard-wagnert« es in dieser Partitur, just in jenem Moment, als der intrigante Gesalich unter eine Maske schlüpft und eine fatale Heilsbotschaft verkündet: Ingunthis solle das Findelkind in die Mauer des Tores legen um die Geister gnädig zu stimmen. Für diese hinterhältige, nur der Vernichtung des Baumeister-Konkurrenten dienende Absicht schichtet Siegfried Wagner »Tannhäuser«- und »Parsifal«-Klänge übereinander und dechiffriert so die fatale Vorgehensweise deutschnationaler Kreise, die in den Zwanzigerjahren die Werke Richard Wagners tendenziös auf ihrem Schild führen und die – sich unter der Maske Richard Wagners bergend – Unheil stiften.
 
Der Sohn, der sich als Festspielleiter für eben diese Werke einsetzen muss, beweist als Komponist Haltung und manifestiert auf musikdramaturgisch dialektische Weise unmissverständlich seinen Standpunkt.


Peter P. Pachl


Quelle: Programmheft Festspiele Rudolstadt 1994 (mit freundlicher Genehmigung des Autors) 
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