| | | | »Tannhäuser« trifft FRIEDENSENGEL in KošiceUnter dem Titel Wie »schwul« darf eine Wagner-Oper in der Slowakei sein? berichtet Dr. Kevin Clarke im Mannschaft Magazin über potentielle Probleme in Zusammenhang mit der aktuellen »Tannhäuser«-Produktion am Nationaltheater Košice: Die Frage ist, ob die Presse in der Slowakei auf diese schwule Neuerzählung der »Tannhäuser«-Geschichte eingehen wird – oder diesen Regieansatz einfach mit dem Mantel des Schweigens bedecken wird. Und falls kein Schweigen die Reaktion ist, wird dann alternativ laut dagegen gehetzt? Oder kann es eine offene Auseinandersetzung mit dem Thema geben?
Auch Axel Brüggemann thematisiert in seinem wöchentlichen »Insider-Report« bei crescendo, KlassikWoche 48/2023 vom 27. November 2023, den eventuellen Skandal: Die neue rechtspopulistische Kulturministerin der Slowakei hatte Mitte November eine LGBTIQ-Fotoausstellung gestoppt, nun spielt das Nationaltheater in Košice Wagners Tannhäuser. Die künstlerische Produktionsleitung von Ondrej Soth, Roland Khem Tóth und Stanislav Trynovský will den Titelhelden als Doppelgänger des schwulen Wagner-Sohns Siegfried inszenieren. Die Aufführung sorgt schon vor der Premiere für Debatten.
Unter der Überschrift Nach 65 Jahren wieder am Nationaltheater Kosice: Richard Wagners Tannhäuser konstatiert Dramaturg Roland Dippel in der Neuen Musikzeitung eine »bipolare Wirkungsgeschichte der Bayreuther Festspiele« und umreißt das Regiekonzept der Produktion: Die »biographische Phantasie« beginnt mit der Anbahnung zur Vermählung Siegfrieds, damals »begehrtester Junggeselle Deutschlands«, mit Winifred, der späteren Festspielleiterin und lebenslangen Parteigängerin Adolf Hitlers. Sie endet mit Siegfried Wagners tödlichem Herzanfall während der Bayreuther »Tannhäuser«-Proben 1930. Als versöhnlicher Ausblick erklingt nach dem berühmten Pilgerchor-Finale der Schlusschor aus Siegfried Wagners Oper Der Friedensengel (entstanden 1914).
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| wagnerspectrum zum Schwerpunktthema: Sex und Gender Der aktuelle Band der Schriftenreihe wagnerspectrum behandelt die Themen »Sex und Gender« mit folgenden Aufsätzen zum Schwerpunkt: - Nicolai Endres: Wagner und die Männerliebe
- Sven Friedrich: Siegfried Wagner – Bayreuths Erbe „aus andersfarbiger Kiste“
- Kevin Clarke: Versteckte LGBT-Netzwerke bei den Bayreuther Festspielen in der Ära Siegfried Wagners
- Friederike Wießmann: »Schlafen und Wachen«, »Tod und Leben«, »Pein und Lachen« – Wagner und Kundry
- Katharina Hottmann: Körper im Kampf – Männliche Agonalität in der Gerichtskampfszene des Lohengrin
- René Michaelsen: Verrenkte Männlichkeit – Zu Beckmessers Pantomime in den Meistersingern von Nürnberg
- N. M. Sternitzke: Men’s Health – (Queere) Männlichkeit in Illustrationen und Kostümentwürfen zu Wagners Ring
Eine Rezension des Bandes resp. der Beiträge, die sich in diesem Zusammenhang mit Siegfried Wagner auseinandersetzen, folgt in Kürze.
wagnerspectrum, Schwerpunkt: Wagner, Sex und Gender, Würzburg 2023 |
| Siegfried Wagner als nationalsozialistischer Künstlertyp In seinem 2021 publizierten Buch Hier gilt's der Kunst: Wieland Wagner 1941-1945 bezeichnet der Musik- und Theaterwissenschaftler an der Universität Bayreuth und Leiter des Forschungsinstituts für Musiktheater in Thurnau, Anno Mungen, Siegfried Wagner wörtlich als »nationalsozialistische[n] Künstlertyp«. Dass »Wieland und Wolfgang während der Nazi-Herrschaft eng mit dem Regime und Hitler persönlich verbunden waren und davon profitierten,« sei ja bekannt, heißt es in der – eine Rezension des Buches zitierenden – Verlagsankündigung. Doch beim »Zusammenspiel von Krieg und Kunst, von Politik und rücksichtslosem Streben nach Erfolg« (Klappentext) muss auch Siegfried Wagner herhalten; im Kapitel »Huschele« führt der Autor aus: Großvater Richard und Vater Wieland [sic ! – gemeint ist natürlich Siegfried] versehen ihre Erstgeborenen mit Namen, die aggresive Männlichkeit verheißen. Im Falle Siegfried Wagners hatte das nicht funktioniert, aus ihm war kein Kämpfer, sondern ein nationalsozialistischer Künstlertyp erwachsen.
Siegfried Wagners Sterbedatum und das Verdikt von Joseph Goebbels – um nur zwei Argumente gegen diesen Nonsens anzuführen – dürften dem promovierten und habilitierten Autor bekannt sein. Die Behauptung übrigens, Siegfried Wagner habe als Festspielleiter eine »antisemitische Besetzungspolitik« betrieben, konnte schon 2015 anhand einer simplen Statistik widerlegt werden, vgl. »Verstummte Stimmen? Die Bayreuther Festspiele zwischen 1896 und 1933«.
Anno Mungen, Hier gilt's der Kunst: Wieland Wagner 1941-1945, Frankfurt 2021, S. 100 |
| »Wie der Papa«: Kopfstand als Tradition im Hause Wagner Der Komponist Josef Bohuslav Foerster und seine Frau, die Sängerin Bertha Lauterer-Foerster, begegneten Cosima Wagner im Sommer 1893 als Gäste in der Villa »Wahnfried« in Bayreuth; Bertha Lauterer-Foerster war von Cosima Wagner gebeten worden, die Rolle der Elsa im »Lohengrin« für die Festspiele einzustudieren. Nachdem ihm Siegfried Wagner als »ein stiller, bescheidener und natürlicher junger Mann von schlichtem, unkompliziertem, gleich bei der ersten Begegnung durchsichtigem Charakter« erschienen war, schildert Foerster eine Begebenheit anlässlich einer Mittagstafel: Mein Gedächtnis bewahrt die Szene auf, wie Siegfried, als das Essen vorüber war, sich leise vom Tisch erhob, ohne den Wink seiner Mutter abzuwarten, und mit einem Mal in einer Ecke des Speisesaals den Kopfstand machte. Fräulein Eva machte mit einem Blick Frau Cosima auf die ungewöhnliche Evolution aufmerksam, vielleicht war es ihr unangenehm, daß dies in Gegenwart der Gäste geschieht, doch die Mutter bemerkte, sich mir zuwendend (ich saß bei Tische links neben ihr): »Wie der Papa« … Und Siegfried kehrte ruhig, mit gerötetem Gesicht und heiterem Ausdruck auf seinen Platz zurück.
Vladimir Karbusicky (Hg.), Besuch bei Cosima: Eine Begegnung mit dem alten Bayreuth. Mit einem Fund der Briefe Cosima Wagners, Hamburg 1997, S. 54 und 58-59. |
| Ignoranz und Unkenntnis Ein Beispiel dafür, wie durch Ignoranz und Unkenntnis gerade in Bezug auf Siegfried Wagner Fehler erzeugt und kolportiert werden, gibt Eva Rieger in ihrem neuen Buch: Isolde. Richard Wagners Tochter. Eine unversöhnliche Familiengeschichte. Darin zitiert sie aus einem Brief Isolde Beidlers an ihre Schwester Eva Chamberlain: »›Das war ein Müssen‹, war ›Herzensgebot‹!« und erläutert die beiden in Anführungszeichen gesetzten Zitate [Plural!] in Fußnote 46 folgendermaßen: »Zitat [Singular!] aus Meistersinger, III. Akt.« Dies bezieht sich freilich nur auf das erste Zitat in dieser Briefstelle, das zweite erkennt sie gar nicht oder verwechselt es möglicherweise mit einer Stelle aus dem II. [!] Akt Meistersinger (»Lenzes Gebot, die süße Not …«). Jedenfalls weiß sie ganz offensichtlich nicht, dass es sich hierbei eindeutig um eine Anspielung auf eine Oper von Siegfried Wagner handelt: Sternengebot (op. 5, 1906), in der es um Schicksal und Selbstbestimmung geht: Der Kontext dieses zweiten Zitats hätte Eva Rieger einen zusätzlichen Aspekt der Situation ermöglicht, die sie an dieser Stelle ihres Buches beschreibt, aus Unkenntnis aber weder verstehen noch einordnen kann. Die Autorin hat in dieser Hinsicht zumindest schlecht recherchiert, denn schon eine einfache Abfrage bei Google hätte ihr sogleich die richtige Spur gezeigt. Doch anscheinend hat sie sich keine Gedanken darüber gemacht, was es mit dem Zitat in dem fraglichen Brief vielleicht auf sich haben könnte, und dass es aus einer Oper des Bruders der beiden korrespondierenden Schwestern stammt, ist ihr gar nicht erst in den Sinn gekommen. Achim Bahr
Eva Rieger, Isolde. Richard Wagners Tochter. Eine unversöhnliche Familiengeschichte, Berlin 2022, S. 277. |
| Neuigkeiten zu Walter Aign In seiner umfangreichen Dissertation über Kurt Overhoff, den Lehrer und Mentor Wieland Wagners, greift der Dirigent und Pianist Adrian Müller den Disput über Walter Aign auf: […] Dabei überging er [Kurt Overhoff; Anm. d. Red.] offenbar aus Unkenntnis die Tatsache, dass das älteste Kind Siegfrieds dessen unehelich gezeugter Sohn Walter Aign (09.06.1901 - 04.12.1977) war, seinerseits Kapellmeister und Studienleiter am Staatstheater Stuttgart und musikalischer Assistent bei den Bayreuther Festspielen. […] Die Abstammung von Siegfried Wagner wurde von Aign selbst meinem ehemaligen Lehrer, Walter Hagen-Groll, bestätigt, der Anfang der 1950er Jahre am Staatstheater Stuttgart Korrepetitor und enger Freund und Schüler Aigns war. Sie ist also nicht, wie von Brigitte Hamann vermutet, ein erst nach Aigns Tod von Peter P. Pachl »konstruiertes« Gerücht.
Adrian Müller, Kurt Overhoff. Im Banne Bayreuths, Würzburg 2020, S. 185, Anm. 167. |
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