| Inhalt und Musik von op. 9 In die Zeit der Preußenkriege – Christentum versus heidnischer Urglaube – führt die neunte, im Juni 1913 vollendete Oper Der Heidenkönig. An »der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts« faszinierte den Komponisten offenbar, dass hier zu einem Zeitpunkt, wo in ganz Europa Glaubenskriege zwischen Lutheranern, Katholiken, Reformierten, Calvinisten und Hugenotten tobten, im Norden Preußens, bei den Wenden, noch Kämpfe zwischen Heiden und Christen stattfanden. Der Komponist demonstriert, dass Religion in der Gesellschaft mit politischem Machtkampf zu tun hat. Radomar, der von den Wenden gewählte König, zweifelt daran, ob er der echte Vertreter des überlieferten Glaubens ist, sympathisiert er doch mit neuen Bestrebungen und anderem Gedankengut. Er gilt in den Augen der Orthodoxen als unrein. Es fällt nicht schwer, autobiographische Bezüge aufzudecken: Wird doch die Leitung der Bayreuther Festspiele immer mehr zu einem deutschnationalen Politikum und fördert Meinungen zutage, die nach Siegfried Wagners Ansicht nichts mit dem Kunstwerk seines Vaters zu tun haben. Über Siegfried Wagner aber zieht Maximilian Harden, dessen Homosexuellen-Hatz bereits 1906 zum Eulenburg-Skandal geführt hatte, her und bezeichnet den Komponisten als »Sozialist oder Heiland aus andersfarbiger Kiste«.
Einflüsse des Verismo werden in dieser Handlung, deren Kern eine Ehebruchsgeschichte mit Erpressungsversuchen ist, deutlich. Nicht etwa das Christentum triumphiert über das Heidentum, sondern die Menschlichkeit über die Unmenschlichkeit.
Opus 9 ist das erste Bühnenwerk in der Reihe jener Opern, die zu Lebzeiten des Komponisten nicht mehr uraufgeführt wurden. Zwar ist das Werk 1914 im Verlag Carl Giessel in Bayreuth erschienen, und offenbar mangelte es auch nicht an Interesse, diese Oper uraufzuführen, aber Siegfried Wagner sparte sich die Uraufführung für jenes Theater auf, das einen kompletten Zyklus seiner Opern realisieren würde.
Infolge des Ersten Weltkrieges kam es jedoch weder zu der 1914 geplanten zyklischen Aufführung im Zirkus Sarrasani in Dresden, noch zu einer späteren Gesamtaufführung der Opern Siegfried Wagners in einem Theater. Rostock erhielt im Jahre 1919 die Genehmigung zur Uraufführung des Opus 13, Der Schmied von Marienburg, da dieses Theater immerhin die Opern Der Bärenhäuter, Schwarzschwanenreich und An Allem ist Hütchen Schuld ! im Repertoire hatte; hier gab es im Dezember 1919 einen Zyklus der Opern Opus 1, Opus 7, Opus 11 und Opus 13.
In Konzerten brachte der Komponist aus Opus 9 wiederholt zwei Zwischenspiele sowie eine Gesangsszene der Ellida und eine Szene für gemischten Chor und Tenorsolo zur Aufführung. Die Uraufführung der kompletten Oper erfolgte postum, am 16.12.1933 an den Städtischen Bühnen Köln in der Inszenierung von Siegfried Wagners Regieschüler Alexander Spring. Im Jahr darauf erlebte Der Heidenkönig eine weitere Inszenierung in Nürnberg.
Siegfried Wagner hat es vermieden, Neufassungen seiner Opern zu verfassen. Einzig seine eigenen Interpretationen zeigten neben einem sehr freien Umgang mit der Spielvorlage und der noch erweiterten Geräuschebene der Partitur deutliche Änderungen, die teilweise in den vom Komponisten publizierten Regiebüchern überliefert sind oder aus dem gedruckten Textbuch zu Siegfried Wagners Rundfunkdirigat seines Opus 7, Schwarzschwanenreich hervorgehen.
Die zu zahlreichen Opern existierenden, die Szenen der Opernhandlung in Wort und Ton erweiternden und verändernden Konzertfassungen stellen bisweilen auch eine Art Neufassung dar. Bei keiner Oper jedoch sind die Änderungen so deutlich als Verbesserung der ursprünglichen Szene in dramaturgischer und musikalischer Hinsicht zu verstehen wie bei der 2. Szene des 2. Aktes Der Heidenkönig. Das Trinklied für Chor mit Tenorsolo führt den Chor polyphon, lässt Waidewut bisweilen die Tenorlinie mitsingen, verändert die Syntax und erleichtert so die Verständlichkeit des szenischen Vorganges. Diese – im Orchestersatz übrigens unveränderte – Version wurde in den vorliegenden Klavierauszug übernommen, nicht aber die in dieser Szene aus Gründen des dramatischen Zusammenhangs ebenfalls erfolgte Verkürzung.
Im Gegensatz zu den meisten Opern Siegfried Wagners beginnt Opus 9 nicht mit einem umfangreichen Orchestervorspiel, sondern – wie bereits Opus 6 – nur mit einer Orchestereinleitung, der ein szenisches Vorspiel folgt. Anstelle eines Orchestervorspiels hat der Komponist für den Konzertgebrauch daher zwei sinfonische Nummern herausgegeben, deren erste das szenische Vorspiel mit dem ersten Akt verbindet. Das Zwischenspiel in E-Dur trägt die Bezeichnung »Glaube«, und ausdrücklich weist der Komponist darauf hin, wie wichtig ihm diese, »Andante religioso« überschriebene, sinfonische Dichtung ist: »Während des Zwischenspiels möge der Lärm der Verwandlung nach Kräften vermieden werden, um das Stück, auf welches der Autor Wert legt, nicht zu verderben.« Mit rein musikalischen Mitteln zeichnet Siegfried Wagner hier einen Glauben, der so stark ist, dass er Intoleranz unmöglich macht.
Ebenfalls die Bezeichnung Zwischenspiel trägt eine sinfonische Version der heidnischen Erntefeier, »Das Kupâlo-Fest«, aber es handelt sich hierbei um eine erweiterte Konzertfassung des Zwischenspiels zwischen erster und zweiter Szene des zweiten Aktes und um eine orchestrale, teils verkürzte, teils auch thematisch erweiterte Orchesterfassung der anschließenden dritten Szene.
Angesichts des Polen-Beitritts zur EU im Jahr von Siegfried Wagners 135. Geburtstag beeindruckt besonders, dass der Komponist mit der in dieser Opernhandlung aufgezeigten Verzahnung von Politik und Sexualität keine Schwarzweißmalerei betreibt: Der polnische Heerführer Jaroslaw erpresst seine Ex-Geliebte Ellida. Aber die Musik macht unmissverständlich deutlich, dass dem Polen Jaroslaw und der preußischen Ehebrecherin Ellida alle Sympathien des Komponisten gehören.
Gegen Ende der Oper lässt Jaroslaw seinen Nebenbuhler Radomar, den Gatten Ellidas, als Heidenkönig festnehmen. Sein Befehl, auch die heidnischen Priester festzunehmen, findet ausgerechnet den Widerspruch des christlichen Mönchs, der – vom Thema des Glaubens begleitet – die Kontrahenten zu beschwichtigen sucht. Als Unikat in der Operngeschichte ist seine Partie in zwei Systemen notiert, wahlweise für einen lyrischen Tenor oder auch für einen lyrischen Bariton.
Das Finale dieser Oper ist dem von Richard Wagners »Tannhäuser« dramaturgisch nicht unähnlich, wenn auch die Rollen von weiblich und männlich in ihrer Funktion seltsam vertauscht erscheinen. Siegfried Wagners Bühnenmusik, – wie schon in Banadietrich, Opus 6 – dem Russoloschen Manifest der »Geräuschkunst« verpflichtet, fährt mit Triangel, Becken und Donnermaschine ungleich stärkere Geschütze auf als die Bühnenmusik seines Vaters. Dem Vergleich mit dem väterlichen Musikdrama vermag Siegfried Wagner aber in erster Linie thematisch Stand zu halten: endet »Tannhäuser« mit dem donnernden chorischen »Halleluja«, so beschließen in Siegfried Wagners Opus 9 den unentschiedenen politischen Kampf auf der Folie von Heidentum und Christentum die zarten Klänge eines nonkonformistischen Glaubens. Peter P. Pachl
Quelle: Vorwort zur Neuausgabe (2004) des revidierten, korrigierten und ergänzten Klavierauszugs von Der Heidenkönig, (mit freundlicher Genehmigung des Autors)
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