»Ein Spiel aus unserer Märchenwelt« nennt Siegfried hintergründig verschmitzt seine neueste Oper DAS FLÜCHLEIN, DAS JEDER MITBEKAM, und tatsächlich herrschen zum drittenmal in seinem – nunmehr achtzehn Bühnenwerke umfassenden Œuvre – Märchenmotive vor. Doch »unsere Märchenwelt«, das meint auch jenes, was uns täglich an Märchen erzählt und vorgegaukelt wird, die Größen der Tagespolitik, die der Gartenlauben-Journalismus oft so märchenhaft schildert. Stärker als in seinen früheren Werken ist hier der Bezug zur Entstehungszeit, und die Namen der Protagonisten – sonst im Sinne einer verklausulierenden zeitlichen Entrückung des Stoffes oft kompliziert gesucht – sind einfach und verständlich.
Im Mittelpunkt der Oper wird der Konflikt mit dem sadistischen Räuberhauptmann Wolf ausgetragen. Dass damit unmissverständlich für alle Leser des Textbuches Adolf Hitler gemeint ist, hat die Witwe Siegfrieds dem Verfasser am 2. Oktober 1979 bestätigt: »Der ›Spitzname‹ Wolf für Adolf Hitler war nicht nur in Wahnfried gebräuchlich, sondern in Parteikreisen allgemein – daher auch die Bezeichnung: ›Wolfsschanze‹ (Kriegsbunker) etc.« War es ihr nicht peinlich, dass die Heldin des Stücks, die junge Maleen, beinahe eine Hochzeit mit Wolf eingeht und ihn – immerhin freiwillig – »Schatz« nennt?
Die Zeichnung Wolfs verrät, dass Siegfried das Pamphlet »Mein Kampf« gelesen hat und dass es ihn in Angst und Schrecken versetzte. Es dürfte ihm bekannt gewesen sein, dass Hitler sein politisches Manifest auf jenem Papier verfasst hat, das Winifred ihm nach Landsberg geschickt hatte. Wolf tönt in der Beschreibung seiner kriminellen Vereinigung:
Lauter edle Halunken,
die in Blut ihr Brötchen tunken!
Und seine Vorstellung des als Spitzel zu dem Kreis um Wolf gestoßenen Wehrhold entspricht vollends Hitlers ratternder Suada:
Hier ein neues Glied,
der zu uns grad geriet:
frisch bekehrt,
noch unbelehrt,
unser drum noch nicht wert!
Er begehrt,
dass man ihn hört
und nicht wehrt,
wenn er Treue schwört!
Zu spät erfolgt die Erkenntnis, dass sich hinter dem neuen Mitglied ein »Verräter« verbirgt, und als Wolf abgeführt wird, stößt er »zähneknirschend« hervor:
Das ist des Stümpers Werk,
den wir verlachten
und arglos zu uns nahmen!
Schade!
Eine treffliche Kraft ging verloren!
Doch zu diesem Zeitpunkt pflastern bereits eine Unmenge von Leichen Wolfs Weg. Allerlei Experimente werden mit den entführten Untermenschen vorgenommen, die schließlich bei lebendigem Leib zerhackt werden, und auch Maleen muss einiges an Psychoterror über sich ergehen lassen, bis sie in der letzten Minute gerettet wird.
Aber nicht nur Wolf hat einen Politiker der Weimarer Republik zum Vorbild. Auch das »tapfere Schneiderlein« in dieser Oper hat mit dem Märchenvorbild so gut wie nichts gemein. Es hat sich als lügnerischer Prahlhans den Namen Graf Erpelmann zugelegt. Unschwer ist diese Namensbildung als Collage der Namen Ebert und Scheidemann zu erkennen, für die Siegfried auch wenig übrig hat, nachdem Scheidemann – wie Prinz Max von Baden es formuliert den »letzten Stoß gegen die Monarchie geführt« und Friedrich Ebert, der Sohn eines Schneidermeisters, der formell als letzter »kaiserlicher« Reichskanzler regierte, den Verteidigungswillen der Arbeitermassen mobilisiert hat. Zu beiden Politikern finden sich in der Handlung des Opus 18 zahlreiche Parallelen, wie Dorion Weickmann in einem Artikel anlässlich der Uraufführung dieser Oper, am 29. April 1984 in Kiel, nachgewiesen hat: So gibt sich das Schneiderlein in der Prosaskizze der Oper als Kanzler des Königs aus, gebraucht wie der im Hessischen Kassel geborene Scheidemann – den typisch hessischen Dialektausdruck »babbeln«. Wie Scheidemann, der mit der Äußerung Aufsehen erregte, der Wortbruch sei »eine der erhabensten Überlieferungen des in Preußen regierenden Hauses«, muss das Schneiderlein erfahren, dass der König sein Versprechen bricht, ihm eine Königstochter zu vermählen.
Wie »auf Befehl« des Sozialdemokraten Ebert beim Aufstand der Kieler Hochseeflotte am 3. November 1918 Soldaten gegen die revoltierenden Arbeiter arschierten, gibt das Schneiderlein vor, als Anführer der Soldaten die Extremisten überwältigt zu haben. Scheidemann wiederum verhielt sich bei Kriegsausbruch 1914 – in der Frage der Bewilligung der Kriegskredite – ebenso opportunistisch wie das Schneiderlein in der Oper, das die Massen für sich mobilisiert, andererseits aber in die Monarchie einheiraten möchte; Scheidemann machte sich mit der Ausrufung der Republik zum Sprachrohr der Massen, gehörte aber dem Kabinett des letzten vom Kaiser ernannten Reichskanzlers, Prinz Max von Baden, als Staatssekretär an. Und wie Friedrich Ebert, der Sattler, eine ehemalige Textilfabrikarbeiterin ehelichte, so heiratet das Opern-Schneiderlein am Ende eine Schneiderin.
Siegfried, der früher oft als »Kronprinz von Bayreuth« bezeichnet wurde, spiegelt sich in der Figur des Prinzen Wehrhold, der wie der Herzog Wildfang von zu Hause fortläuft, da er frei sein will. In der Beziehung zu seiner Liebsten, der Kindfrau Maleen, lässt Siegfried seinen Doppelgänger einige Fehler, die er selbst begangen hat, gut machen: er leitet seine junge Frau, »erzieht« sie, lässt sie die Gefahren erleben, befreit sie aber auch daraus. Das Paar erlebt eine Spiegelung der Abenteuer Frieders und Katherlies’chens in gereifter Form. Aber auch der König, dessen Tod stellvertretend steht für die sterbende Monarchie, trägt Siegfrieds Züge, der auf einen glücklichen Tod hofft, »um mit einem heiteren Eindruck von dieser nicht gerade heiter […] aussehenden Erde zu scheiden«.
Siegfrieds Opus summum ist ein Schwanengesang im doppelten Sinne, denn die elf in Schwäne verwandelten Königsöhne jammern und klagen wie die Kobolde, die allerdings nicht durch den Tod der Königstöchter, sondern durch Tanzen erlöst werden. Zwar sind es keine schwarzen Schwäne wie im SCHWARZSCHWANENREICH, die in dieser Partitur auch einmal zitiert werden, aber von deren Treiben sind sie nicht weit entfernt, wenn man bedenkt, dass sie die Schuhe der Prinzessinnen zertanzen, was symbolisch für Defloration und Koitus steht.
Was aber hat es mit dem Flüchlein auf sich? Auf der Bühne, speziell im Musiktheater, wird viel geflucht. Flüche lassen sich mit großem Gestus, mit dramatischer Wucht schmettern, Flüche sind die Marksteine vieler Opernpartien von Gluck über Mozart, Marschner, Lortzing, Bellini zu Verdi, Richard Wagner, Dvořák, Puccini und Richard Strauss. Um einen ganz anderen Fluch geht es hier. Dieser Fluch wird nicht singend ausgestoßen, er existiert bereits, bevor die Handlung beginnt. Denn es ist auch kein mark- und beinerschütternder Fluch, sondern ein kleiner, ein Flüchlein, unter dem jeder leidet, mit dem jeder unbekannterweise schon einmal zu tun hatte, eben Das Flüchlein, das Jeder mitbekam.
Die häufig in Siegfrieds Opern behandelte Schuld, die auf einem Menschenleben liegt, lässt sich nunmehr von sich streifen, im Leben überwinden. Das unterscheidet dieses Flüchlein auch von der christlichen Erbsünde, die der Mensch nicht aus eigenen Kräften tilgen kann.
Wie du noch gar nicht in der Welt warst,
wie du in Mutters Schoß lagest,
da hattest du’s schon gekriegt,
erklärt die gute Frau (in einem früheren Entwurf zur Oper) der Königstochter Maleen. Maleens Flüchlein ist es, dass sie sich den Weg zum eigenen Herzen verstellt hat. Spät erst erkennt sie den Fehler ihres Handelns, den sie nun durch schier unmenschliche Taten und Leiden wieder gutzumachen sucht. Dabei hilft ihr die gute Frau, das Urbild einer Muttergottheit aus jener Zeit, als noch das Matriarchat waltete und als wahrscheinlich Kriege und Machtkämpfe noch einer fernen Zukunft angehörten. Sie ist die Spielleiterin in diesem kleinen Welttheater, sie schlüpft wie ein Chamäleon in verschiedene Funktionen und kann – je nach Standpunkt des Betreffenden auch als »böse Mahr« erscheinen. Sie hat Taten vollbracht, die nach geltendem Gesetz verurteilt würden, die aber letztendlich, nach einer höheren Gesetzmäßigkeit, als richtig erscheinen. Genaugenommen folgt jeder in dieser Märchenhandlung den Spielregeln der guten Frau. Sie ist die höchste Norm, sie ist Anfang und Ende.
Und sie ist vielleicht die einzige Figur im Œuvre Siegfrieds, die kein reales Vorbild in Siegfrieds Umwelt hat, sondern ein mythisches, dem Siegfried auf seiner alles entscheidenden Asienreise erstmals begegnet war: »Wir kamen nun in den rechts höher gelegenen Kun-Yam-Tempel, wo eine Statue der Göttin, auf Lotos sitzend, sich befindet«, heißt es am 19. April 1892 in Siegfrieds Reisetagebuch, und am 24. Aprill führt er aus: »Kun-Yam gives long life. Die Göttin spielte die Hauptrolle; das wurde uns klar in einer intermezzoartigen Szene, wo die übrigen Götter alle auf Stühlen herumsaßen und Kun-Yam sich in alle möglichen Tiere verwandelte; sie ging bei der einen Türe hinaus, dann kam irgendein Kerl heraus, als Affe oder Tiger verkleidet, nach dessen Verschwinden sie wieder herauskommt und zwar immer mit einem goldstrotzenden neuen Gewande.«
Anläßlich der Uraufführung dieser Oper folgert die Bühnenbildnerin Tamara Oswatitsch: »Als profunder Kenner ägyptischer, indischer und chinesischer Mythologien wusste er, dass manche Märchen und Volkserzählungen sich aus Mythen entwickelten oder in Mythen einflossen. Aus einem großen Mythos machte Siegfried Wagner eine Überfigur seines Märchens.«
Peter P. Pachl
Quelle: Peter P. Pachl: Siegfried Wagner. Genie im Schatten, München 1988, 21994