Wiedergeburt des Opernkomponisten Siegfried Wagner
Siegfried Wagner hatte eine enge Beziehung zu London. Das lag zum einen an seinem engen Freund Clement Harris, Sohn eines wohlhabenden Londoner Reeders, der in Frankfurt am Main Meisterschüler von Clara Schumann wurde, zum anderen an seinem Kontakt zu Sir Edward Speyer. Die Frankfurter Bankiers-Familie (ähnlich den Rothschilds) unterhielt Niederlassungen im europäischen Ausland, u. a. auch in London. Edward Speyer war der Sohn eines Komponisten, mit einer belgischen Sängerin verheiratet und ein Mäzen des Kulturlebens an der Themse. In diesem Zusammenhang wurde er Mitbegründer der »Proms«, der bis heute legendären Promenaden-Konzerte, die zunächst in der Queen’s Hall stattfanden.
Unter den Bayreuther Namen findet sich als einer der ersten Dirigenten Hans Richter. Richter und die Familen Speyer und Harris förderten Siegfried Wagner, der im großen Auditorium dieses Konzerthauses 1895 sein Debüt als Dirigent und Komponist erfolgreich absolvierte. Seitdem war Wagner der Jüngere häufig in der britischen Weltstadt zu Gast, dirigierte ab Mitte der Zwanziger Jahre auch für die BBC im Rundfunk und die symphonischen Orchester bei Schallplatten-Aufnahmen. Winifred Wagner war gebürtige Engländerin, und nach dem Zweiten Weltkrieg lebte ihre und Siegfried Wagners Tochter Friedelind zunächst in den USA, dann in England. All das führte dazu, dass die »Wiedergeburt« des Opernkomponisten Siegfried Wagner im Herbst 1975 in London stattfinden sollte. Die britisch-deutsche Freundschaften wurden durch die gegenseitigen Zerstörungen – trotz familiärer Beziehungen der gekrönten Häupter – auf eine schwere Probe gestellt, die Queen’s Hall mit 3.000 Plätzen war zerstört und wurde nicht wieder aufgebaut. Erst 1969 eröffnete Königin Elisabeth II mit der »Queen Elizabeth Hall« ein neues Konzerthaus – und hier ist zum ersten Mal seit 1926 das Bühnenwerk Opus 10, DER FRIEDENSENGEL, erklungen, das Friedelind Wagner (1918-1991) ausgewählt hatte.
Bis 1907 erlebten die Bühnenwerke von Siegfried Wagner zahlreiche Aufführungen und immer wieder Neuinszenierungen. Der Weltkrieg brachte es ab 1914 mit sich, dass geplante Uraufführungen verschoben werden mussten. DER FRIEDENSENGEL entstand zwischen Herbst 1913 und Frühjahr 1914, die Uraufführung musste allerdings bis 1926 warten. Die Welt war eine andere geworden, der spätromantische Stil des Komponisten mochte nicht mehr in die neue Zeit der turbulenten Zwanziger Jahre der Weimarer Republik passen.
1917, 1918, 1923 und schließlich 1926 gab es insgesamt fünf Uraufführungen, seine zuletzt vollendeten Werke RAINULF UND ADELASIA (op. 14, 1922) und DIE HEILIGE LINDE (op. 15, 1927) mussten bis 2003 bzw. 2001 auf ihre zumindest konzertanten Uraufführungen warten; beide Realisierungen waren hochkarätig besetzt und wurden durch den WDR und den SWR produziert, die Mitschnitte sind bei cpo als Gesamtaufnahmen in attraktiven CD-Boxen mit Libretto und Einführungstexten erhältlich.
Bis auf wenige Ausnahmen, verhinderte die Witwe Winifred Wagner als Rechte-Eigentümerin der Musik ihres Ehemanns das Erklingen seiner Musik nach dessen Tod 1930. Leider geriet Siegfried Wagner durch die nachträgliche Uraufführung von Opus 9, DER HEIDENKÖNIG, in den Verdacht, geistig ein »Nazi« gewesen zu sein. Dabei war die Inszenierung in Köln von 1933 eine bewusste Verfälschung des Werkes. 1944 absolvierte Wolfgang Wagner sein Regie-Debüt mit einer Oper seines Vaters (BRUDER LUSTIG), doch nach Kriegsende beschied Winifred Wagner allen Anfragen eine Absage. Nur instrumentale Musik von Siegfried Wagner war ab und zu in Symphoniekonzerten zu erleben, z. B. 1969 zum 100. Geburtstag das bemerkenswerte VIOLINKONZERT.
Friedelind pro Vater und contra Mutter
Die ältere Tochter von Winifred und Siegfried Wagner geriet häufig in Konflikte mit der Familie, vor allem mit ihrer Mutter. 1975 umging sie deren Verbot und setzte sich für die Wiederentdeckung des Opernwerkes ihres Vaters ein. Aufgrund hervorragender Kontakte in England fand sie ein freies Opernensemble, das sich der Wiederentdeckung vergessener Komponisten widmete. Sie entschied sich ob der Realisierbarkeit für die quasi autobiographische Oper, die eben 1913/14 in Wahnfried entstand. Die Aufmerksamkeit für diese konzertante Aufführung war groß, fast dreißig Familienmitglieder der Wagner-Stämme waren extra angereist – ebenso groß waren Erstaunen und Begeisterung, viele hatten natürlich nie eine Oper von Vater, Großvater, Onkel, Großonkel erleben können. Zwei der Hauptpartien konnten herausragend besetzt werden: Hanne Lore Kuhse (1925-1999), eine gefeierte Hochdramatische der damaligen DDR, übernahm die Hauptpartie der Mita, einer interessanten Frauenfigur und »Heldin« – und Martha Mödl, eine der herausragenden Isolden, Brünnhilden und vor allem Kundrys Neu-Bayreuths, auf dem Hügel gefeiert von 1951 bis 1967, glänzte beeindruckend in der Partie der Frau Kathrin. Die Aufführung ist durch einen Live-Mitschnitt als CD bis heute verfügbar, ein wahrlich historisches Dokument! Orchester, Chor und Solisten musizierten qualitativ angemessen, wenngleich der Umgang mit der deutschen Sprache mitunter abenteuerlich anmutet.
DER FRIEDENSENGEL am 23. November 1975 in London
Die Verpflichtung von Martha Mödl (1912-2001) war in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung: Zum einen wertete allein ihre Mitwirkung die Oper von Siegfried Wagner auf, sie warf ihren großen Namen als Interpretin in die Waagschale und garantierte neben Friedelind Wagner entsprechende Medien-Aufmerksamkeit. Zum anderen pflegte sie freundschaftlichen Kontakt zu Mutter und Tochter, konnte bei Winifred Wagner für die Aktivitäten der Tochter werben, vielleicht sogar versöhnen, ihre Interpretation verhalf der Figur der Frau Kathrin zur Dimension einer wahrhaften Tragödin. Ihr Schmerz, ihre Verzweiflung rühren zu Tränen. Auch der schonungslose Einsatz ihrer Stimme ist bedrückend authentisch. Sie brennt für das, was sie zusagt: Bei ihr herrschte ein unbedingter Darstellungswille. Leider genügt die technische Qualität der fünfzig Jahre alten Einspielung heutigen Standards nur noch bedingt.
Trotzdem gibt das Live-Erlebnis bis heute zumindest einen ersten Eindruck in die Qualität dieser Schöpfung Siegfried Wagners. Bei dieser handelt es sich nicht um die Adaption eines Märchens, einer Sage, eines Romans im Sinne einer Bearbeitung, sondern um eine Handlung, die er als sein eigener Librettist sozusagen als Original aus sich selbst heraus entwickelte, weshalb gerade dieses Bühnenwerk wie ein Tagebuch funktioniert und seine Gedanken und Sorgen jener Zeit formuliert. Über die Aufführung berichtete damals übrigens ein 22jähriger Bayreuther für das Musik-Feuilleton der Zeitungen: Peter Paul Pachl (1953-2021) hatte 1972 mit anderen Siegfried Wagner-Fans und mit Unterstützung von Friedelind Wagner die Internationale Siegfried Wagner Gesellschaft (ISWG) gegründet, die auch für das Jubiläumsjahr der Festspiele 2026 derzeit attraktive Beiträge plant, sofern die notwendige finanzielle Unterstützung gewährleistet ist.
Mit der Produktion des FRIEDENSENGEL 1975 profilierte sich die ISWG erstmals nachdrücklich, denn Friedelind Wagner und Peter P. Pachl waren zunächst die treibenden Kräfte, zahlreiche Künstlerinnen und Künstler schlossen sich als Mitglieder an, darunter auch Martha Mödl und Hanne Lore Kuhse sowie namhafte Dirigenten und Pianisten. Die »Bonus-Anhänge« auf CD 3 der historischen Aufnahme bringen Live-Konzertmitschnitte von Siegfried Wagners Liedern und Balladen mit beiden Künstlerinnen zu Gehör.
In einem Vortrag am 1. März 2026 (in unmittelbarer Nähe zum Ort der Uraufführung am 4. März 1926 in Karlsruhe) stellt der Bayreuther Dramaturg und Regisseur Claus J. Frankl das Werk zum 100. Jahrestag der ersten Aufführung ausführlich vor und erläutert dabei die Entstehungsgeschichte der Oper sowie die Handlung und Charaktere, natürlich auch die biographischen Bezüge, die sich aus ihr ergeben. Die bis heute andauernde »Wiedergeburt« des Opernkomponisten und die Aufführungsgeschichte seiner Werke über 50 Jahre (hauptsächlich durch die ISWG) wird dabei wie einige Musikbeispiele nicht zu kurz kommen.
Claus J. Frankl
Originalbeitrag für www.SIEGFRIED-WAGNER.org