| Plädoyer für weitere szenische Neubefragungen »Später Triumph«, »Siegfried lässt sich hören«, »Wagner begeistert von Wagner« … so oder ähnlich feierte die Presse die posthume Konzertpremiere der Oper Die heilige Linde von Siegfried Wagner am 17. und 19. Oktober vergangenen Jahres in der Kölner Philharmonie unter der Leitung von Werner Andreas Albert. Ähnlich euphorisch fällt eine Rezension im Zusammenhang mit einer Neuheit auf dem CD Markt aus: Siegfried Wagner »Arien für Sopran« interpretiert von Dagmar Schellenberger, dem WDR Rundfunkchor Köln, dem WDR Sinfonieorchester Köln, wiederum unter der Leitung von Werner Andreas Albert. Hervorgehoben wird, dass die zahlreichen Opern Siegfried Wagners geradezu einen Kosmos hochdifferenzierter musikalischer Charaktere darstellen. Mit 15 Bühnenstücken komponierte Siegfried Wagner mehr Opern als sein Vater Richard.
»Ich lege eine Partitur nach der anderen ins Schubfach. Wenn ich einmal tot bin, wird man sie hervorholen!« Siegfried Wagner wusste, dass er einen Teil seiner Bühnenwerke nur für die Nachwelt komponierte. Und wenn diese nach Jahrzehnten der Vergessenheit erstmals erklingen, fragt sich der Hörer zu Recht nach den Gründen für diesen Domröschenschlaf. Das langjährige Mitglied der Internationalen Siegfried Wagner Gesellschaft, Frau Ks. Martha Mödl, bekannte einmal: »Man muss etwas für Siegfried Wagner tun!« Denn dieser hatte das Pech, zwischen zwei Genies zu stehen. Auf der einen Seite Vater Richard, auf der anderen Sohn Wieland.
Siegfried wurde am 6. Juni 1869 als einziger Sohn Richard und Cosima Wagners in Tribschen bei Luzern geboren. Überglücklich über die Geburt des Sohnes komponiert der Vater das »Siegfried Idyll«. 1872 siedelt die Familie nach Bayreuth über. Seine Kindheit bezeichnet Siegfried in den 1923 erschienen »Erinnerungen« als glücklich. Er darf seine Eltern auf ihren Reisen begleiten und lernt auf diese Weise zahlreiche Theateraufführungen kennen. Das animiert ihn schließlich dazu, selbst eine Reihe »aufregender« Stücke zu entwerfen. Nach Bestehen des Abiturs (1889) nimmt er bei Engelbert Humperdinck in Mainz Unterricht in Musiktheorie und Kontrapunkt. Die vielen Reisen beeinflussen Siegfried jedoch auch in anderer Hinsicht – er entwickelt Interesse an Architektur. Nach ersten Kompositionsversuchen beginnt er, vier Semester Architektur zu studieren. Dennoch – die Liebe zur Musik ist größer und schließlich reift in ihm der Entschluss, Dichterkomponist zu werden und als Festspielleiter das Bayreuther Erbe anzutreten. 1893 tritt er zum ersten Mal als Dirigent im Markgräflichen Opernhaus Bayreuth auf, bereits 1896 dirigiert er im Festspielhaus zweimal den »Ring« und ab 1901 führt er selbst Regie. 1906 übernimmt er von seiner Mutter die Leitung der Bayreuther Festspiele.
Der Ehe mit Frau Winifred (1897 – 1980) entstammen die vier Kinder Wieland (1917), Friedelind (1918), Wolfgang (1919) und Verena (1920). Zeitlebens setzt er sich engagiert für das Werk seines Vaters ein. Aber er findet auch den Mut, als Musikdramatiker eigene Wege zu gehen. Neben 18 Bühnenwerken (15 sind vollendet, 3 blieben Fragment) entstehen eine Reihe von Orchesterwerken und Liedern. Am 4. August 1930 stirbt Siegfried Wagner.
Seine Musik zeichnet sich durch großen Melodienreichtum aus. Einige Kritiker wollen zwar immer wieder den Vater heraushören – tatsächlich kann der Komponist bisweilen seine Herkunft nicht verleugnen – aber der Meisterschüler Engelbert Humperdincks bringt sehr viel Eigenständiges ein. Wenn man bestimmte Stücke des Öfteren hört, werden es mehr oder weniger echte »Ohrwürmer«. Zu Recht wird die Frage gestellt, warum die wunderbare Musik bislang nur sporadisch auf der Bühne oder im Konzertsaal erklingt. Hartnäckig behauptet sich ein Grundtenor, der anlässlich einer konzertanten Aufführung der Oper Sternengebot in der »Saarbrücker Zeitung« (1. Juni 1977) zu lesen war: »Siegfried war gewiß ein guter Musiker, von dem manches zu Unrecht in Vergessenheit geriet, aber als sein eigener Librettist war er nur ein arger Dilettant. Die Macht und die Kraft des Wortes war ihm, zum Unterschied vorn Vater, nicht gegeben. dass er ‚nach Art des Hauses stabreimelt … mag niemand wundern, aber wenns um Endreime geht, endets meist in unfreiwilliger Trivialkomik. Bei den Texten erscheint eine Revision des Zeiturteils nur schwer möglich.«
An einer anderen Stelle heißt es sinngemäß, dass das heikelste Problem einer Siegfried-Wagner-Renaissance nicht nur die Texte, sondem auch die Stoffe darstellen.
Rudolstadt brachte 1992 (und in den Folgejahren) in Bezug auf Szenisches die Wende. Die kleine thüringische Stadt im grünen Herzen Deutschlands bescherte den Besuchern zu den wieder ins Leben gerufenen Rudolstädter Festspielen mit dem Bärenhäuter die szenische Aufführung eines Werkes von Siegfried Wagner. Die kleine Stadt an der Saale mit ihrem weithin bekannten Wahrzeichen, der Heidecksburg, wurde zum »Weltenzentrum« für die Neubefragung des Siegfried Wagnerschen Oeuvres. Die kontinuierliche Auseinandersetzung mit den Werken des Komponisten brachte zum einen überaus Positives, hinterließ zum anderen Fragen. Die Stoffe scheinen nicht mehr das Problem zu sein. In einer Rezension von Laura Naumburg in der Zeitung »Neues Deutschland« vom 15.7.1993 heißt es u. a.: »Siegfried Wagners Werke sind wahrlich keine naiven Märchenopern, sie verarbeiten die Motive zu gleichnishaften Geschichten.«
Der Dichterkomponist »bewies am Anfang des Jahrhunderts eine heute beklemmende Hellsichtigkeit«. So wird die Märchenoper Der Bärenhäuter als ganz reales Märchen interpretiert. Hans, zum Monstrum verunstaltet, muss als abstoßendes Wesen durch die Lande ziehen und beginnt damit eine Reise in sein Ich. Er wird mit Fragen und Problemen konfrontiert, die hier und heute gesellschaftlich relevant sind: Warum sind Menschen dermaßen veränderlich? Warum liegen Glück und Unglück so dicht beieinander? … Fragen, die sich gewiss auch der Zuschauer stellt.
Zweifellos haben in Konstanze Lauterbachs Inszenierung von Schwarzschwanenreich Diskussionen um Ausländer, Asyl und Paragraph 218 Pate gestanden. Das Motiv der »Kindsmörderin«, das Siegfried Wagner in dieser Oper aufgreift, ist in der Kunst seit Heinrich Leopold Wagners Drama »Die Kindsmörderin« (1776) geläufig.
Linda, ein junges Mädchen, wird denunziert, sie habe ihr Neugeborenes getötet. Als Hexe verteufelt, ist sie der Folter ausgesetzt und endet schließlich auf dem Scheiterhaufen. Reale Vorgänge, die in vergangenen Jahrhunderten keine Seltenheit waren. Und heute? Lug und Trug, Aggressivität gegenüber Kindern, Gewalt gegen Andersdenkende, Denunziation und Rufmord gehören beinahe schon zum normalen Alltag. Die Medienlandschaft delektiert sich daran. Gilt es doch, Tag für Tag sensationslüsterne Leser mit Informationen zu füttern, die ihrerseits ein Garant dafür sind, dass Einschaltquoten und Auflagenhöhen nicht sinken, sondern eher noch steigen. Die Medienmacher geißeln zwar die Täter, aber die Not der Opfer wird nicht etwa dezent respektiert, sondern detailliert zur Schau gestellt. Wie in Schwarzschwanenreich wollen diejenigen, die sich empören und sich zum Richter über Recht und Ordnung aufschwingen, nicht wahrhaben, dass sie gleichermaßen zu Tätem geworden sind.
Oder Wahnopfer. Eine Stadt im Krieg. Zur Abwehr der Feinde ist ein Tor zu bauen. Argimund, ein Baumeister, hat den Bauauftrag erhalten. Aber bereits zweimal ist ihm das Tor schon eingestürzt. Ihm droht der Tod, wenn der dritte Versuch misslingt. Argimunds Neider sehen ihre Stunde gekommen. Sie lassen nichts unversucht, um ihren Konkurrenten zu Fall zu bringen. Einer von ihnen ist Gesalich. Er suggeriert Argimunds Partnerin Ingunthis, sie könne das Leben des Liebsten retten, wenn sie – wenn auch nur für wenige Stunden – ein Neugeborenes in das Tor einmauern lassen würde. Ingunthis, die ein Neugeborenes an Kindes Statt angenommen hat, willigt in ihrer Verzweiflung ein. Tatsächlich hält das Tor, aber das Kind ist tot. Wahn und Verblendung haben über Vernunft und gesellschaftliches Miteinander gesiegt. Konflikte, Krisen und Kriege sind Folgeerscheinungen.
Sollte man dem Dichterkomponisten angesichts dieser Realitätsnähe Vorwürfe in Bezug auf verworrene Handlungen mit autobiographischen Bezügen, Selbstbekenntnissen und Symbolen machen? Ich vermag es nicht.Vor allem auch deshalb nicht, weil in den mythischen Stoffen immer wiederkehrende menschliche Grundzüge zu finden sind, die Allgemeingültigkeit haben. Die Rudolstädter Siegfried Wagner Interpretationen, und nicht nur die – szenische Neubefragungen gab es zwischenzeitlich mit An Allem ist Hütchen Schuld ! (1997) und Bruder Lustig (2000) im Theater Hagen –, haben eindrucksvoll bewiesen, dass die Bühnenstücke durchaus lebensfähig sind.
Die Werke sollten danach befragt werden, was sie zu leisten imstande sind. Und nicht: Wo liegen ihre Schwächen.
»Man muss etwas für Siegfried Wagner tun!« Abgesehen von den erwähnten erfolgreichen Wiederbelebungsversuchen einzelner Bühnenstücke gab es im Oktober des vergangenen Jahres das erste internationale wissenschaftliche Symposium zu Siegfried Wagner. Eine Woche lang erörterten die Teilnehmer das Werk des Komponisten, dessen internationale Rezeption und Aufführungspraxis. Werner Andreas Albert ist zuversichtlich: »Ich glaube, dass Siegfried Wagner jetzt eine Renaissance erleben wird.« Und das nicht nur auf der Bühne, sondern auch auf dem Phonosektor.
Über ein reges Interesse erfreut sich die Internationale Siegfried Wagner Gesellschaft e.V. online im Internet unter www.SIEGFRIED-WAGNER.org. In den Hauptabteilungen finden Interessenten nicht nur Termine, Mitteilungen und Berichte, sondern auch den vom Siegfried Wagner Experten Peter P. Pachl erstellten ausführlichen Opernführer sowie ein Verzeichnis der CD-Einspielungen (mit Online-Bestellmöglichkeit).
Unter Siegfried Wagner gibt es also Vieles zu erkunden und bei Siegfried Wagner noch mehr zu entdecken. Christoph Suhre
Quelle: Der Neue Merker, Nr. 150, Wien Oktober 2002 (mit freundlicher Genehmigung des Autors; unwesentlich gekürzt)
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