Am 12. September 2017 verstarb GMD Prof. Siegfried Köhler im Alter von 94 Jahren in Wiesbaden.
Siegfried Köhler war der musikalische Urvater der Siegfried Wagner-Renaissance in Deutschland. In jungen Jahren hatte er in Saarbrücken noch Aufführungen von Werken Siegfried Wagners erlebt, die nachhaltigen Eindruck auf ihn gemacht hatten. Er war von der Qualität und Originalität dieser Musiksprache rundum überzeugt und hatte, anlässlich eines Konzerts im Jahre 1969 im Staatstheater Saarbrücken eine eigene Kadenz zu Siegfried Wagners Konzertstück für Flöte hinzukomponiert. So bedurfte es bei ihm nur eines sehr geringen Anstoßes, als Leslie Head mit der Londoner Erstaufführung des Friedensengel im Jahre 1975 ein erstes Durchbrechen des langjährigen Aufführungsverbotes von Winifred Wagner gelungen war, in Wiesbaden, wo Köhler damals als Generalmusikdirektor am Hessischen Staatstheater wirkte, ein Gleiches zu versuchen. Er fragte mich, welche Oper ich für eine konzertante Produktion vorschlagen würde, und ich empfahl ihm meine damalige Lieblingsoper, Sternengebot. Auf welche Weise die Anfrage bei Winifred Wagner in Bayreuth erfolgte, kann ich nicht mehr sagen, vermutlich telefonisch. Aber Siegfried Köhler hatte damit Erfolg, und kurz darauf trafen wir uns in Bayreuth. So stand ich erneut Winifred Wagner, die mich aufgrund meiner Aktivitäten für Siegfried Wagner zu ihrer persönlichen Persona non grata erklärt hatte, gegenüber. Köhler gab mich ihr gegenüber als meinen Assistenten aus, und so betrat ich nach mehreren Jahren 1977 erstmals wieder das Siegfried Wagner Haus. Nie zuvor hatte ich jenen langen Raum im Erdgeschoss gesehen, den Winifred Wagner zur Lagerung des im letzten Kriegsjahr von Max Brockhaus nach Bayreuth geschafften Aufführungsmaterials umfunktioniert hatte. In schweren Lagerregalen stapelten sich hier die Noten zu den Opern und symphonischen Werken, säuberlich einzeln in Packpapier eingeschlagen vom Boden bis zur Decke in zwei Reihen. Siegfried Köhler ging es aus einschlägigen negativen Erfahrungen mit anderen Opernmaterialien darum, zu überprüfen ob das Aufführungsmaterial vollständig sei und die Drucke von Partitur und einzelnen Orchesterstimmen einander entsprechen. So haben wir dort etwa zwei Stunden lang uns immer wieder einzelne Stellen der Partitur herausgesucht und überprüft, dass diese in die Orchesterstimmen exakt übertragen und ob diese für alle Instrumente vollständig waren. Erst nach dieser Prüfung sagte Siegfried Köhler die Realisierung von Sternengebot, op. 5 zu. Und tatsächlich durfte ein Fahrer des Hessischen Staatstheaters das Aufführungsmaterial bei Winifred Wagner in Bayreuth ausleihen. Orchester, Chor und Solisten des Staatstheaters vermittelte Köhler die Partitur mit viel Liebe und Engagement. Bei der Einstudierung der Solisten spielte er gerne selbst das Klavier. Siegfried Köhler leuchtete es sofort ein, dass man die geplante Aufführung bei den Maifestspielen des Jahres 1977 in einen größeren Rahmen einbinden müsse, und so kam es zur Planung der Siegfried Wagner Woche 1977. Die Jugendstil-Villa Clementine wurde zum Ort einer ersten großen Ausstellung über Siegfried Wagner, sein Werk und sein Leben. In dieser Villa hatte ich auch ein nicht unumstrittenes Environment aufgebaut, eine gefesselte Puppe des Komponisten mit dem von Otto Daube überlieferten Ausspruch Siegfried Wagners, »Ich lege eine Partitur nach der anderen ins Schubfach. – Wenn ich einmal tot bin, wird man sie hervorholen.«
| | | | | | Ich lege eine Partitur nach der anderen ins Schubfach. – Wenn ich einmal tot bin, wird man sie hervorholen. |
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Die zwei ausverkauften Aufführungen des Sternengebot im Großen Saal des Kurhauses (da das Staatstheater zu diesem Zeitpunkt gerade renoviert wurde) waren ein enormer Erfolg bei Publikum und Presse. Leider verhinderte das damalige Sonntags-Fahrverbot eine geplante Aufzeichnung für Ariola-Eurodisc Schallplatten. In der Wiesbadener Villa Clementine gab es Einführungsveranstaltungen und ein von Siegfried Köhler am Flügel begleitetes Konzert mit weiteren Opernausschnitten Siegfried Wagners. Dabei reüssierte der später auch bei den Bayreuther Festspielen gefeierte Bariton Eike Wilm Schulte mit Szenen aus den Opern Der Bärenhäuter op. 1 und Herzog Wildfang op. 2. ISWG-Mitglied Ks. Martha Mödl, die in Sonnenflammen die Eustachia gestaltete, brachte in der Matinee die Szene der zwei Jahre zuvor in London komplett interpretierten Frau Kathrin aus dem 1. Akt Der Friedensengel op. 10 zum Vortrag sowie die Ballade der Urme aus Bruder Lustig op.4, welche sie eigens für die Matinee bei den Siegfried Wagner-Tagen Wiesbaden einstudiert hatte. (Im ISWG-Schallarchiv gibt es Mitschnitte der Premiere Sternengebot am 15. Mai 1979 und des Konzerts vom 29. Mai 1977; Bestellnummer für ISWG-Mitglieder: ISWG 5 [2 CDs] und ISWG 36 [1 CD].) Mein väterlicher Freund Siegfried Köhler als Mentor und der Erfolg der Siegfried Wagner-Tage Wiesbaden im Mai 1977 evozierten die Fortsetzung der Siegfried Wagner-Pflege am Hessischen Staatstheater. Als Premiere für die Maifestspiele des Jahres 1979 hatte Siegfried Köhler die szenische Produktion von An Allem ist Hütchen Schuld! op. 11 vorgeschlagen und sich bemüht, dafür Medienpartner mit ins Boot zu holen, beispielsweise das Zweite Deutsche Fernsehen in Mainz. Leider kam von Siegfried Augustin, dem ZDF-Verantwortlichen der Redaktion Musik und Theater, der Vorschlag, statt der Oper von Siegfried Wagner von dessen Vater die damals ebenfalls seit mehr als einem Jahrzehnt szenisch nicht mehr realisierte Oper »Rienzi« als Premiere der Mai-Festspiele herauszubringen und live im Fernsehen zu übertragen. Daher gab es 1979 wiederum nur eine konzertante Siegfried Wagner-Produktion: auf meinen Vorschlag hin kam Sonnenflammen op. 8, als eine merklich moderne Partitur des Komponisten, mit dramaturgischen Parallelen zu der damals gerade an der Oper Frankfurt wiederentdeckten Oper »Die Gezeichneten« von Franz Schreker. Dazu gab es im Kleinen Haus des Hessischen Staatstheaters immerhin einen szenischen Beitrag, die Tugendmühle aus An Allem ist Hütchen Schuld!, für die der in Hannover lebende Freund und Bühnenbildner Siegfried Wagners, ISWG-Mitglied Kurt Söhnlein selbst noch eine Projektionsplatte angefertigt hatte. Diese partielle Hütchen-Aufführung erfolgte im Rahmen einer Matinee der zweiten Wiesbadener Siegfried Wagner-Tage am 29. Mai 1977. Weiter erklangen darin, teils von John Dawson, teils von Siegfried Köhler selbst am Flügel begleitet, Balthasars Toast aus Der Friedensengel op. 10, die Ansprache des Burkhart aus Herzog Wildfang op. 2, die Konzertfassung Fridolins Abschied aus Sonnenflammen op. 8, die Szene Ellermutter-Frieder-Teufel aus An Allem ist Hütchen Schuld! op. 11. Das Chorwerk Wer liebt uns wurde a cappella als Quartett ausgeführt vom Vocal-Collegium Wiesbaden. Der lyrische Tenor Peter Pietzsch gestaltete Wittichs Sonnengesang aus Banadietrich op. 6; Pietzsch, bis 2000 für 13 überaus erfolgreiche Jahre Intendant am Theater Hagen, verantwortete daselbst die Neuinszenierungen von An Allem ist Hütchen Schuld! (1997) und Bruder Lustig (2000) – auch dies eine Spätfolge der Erfolgserlebnisse in Wiesbaden. (Auch von der Premiere Sonnenflammen am 15. Mai 1979 und von der Wiesbadener Matinee am 15. Mai 1979 existieren im ISWG-Schallarchiv Mitschnitte; Bestellnummer für Mitglieder: ISWG 8 [3 CDs] und ISWG 36 [1 CD]).
Die Produktion der Sonnenflammen hatte dispositionell auf wackeligen Beinen gestanden und wäre beinahe ganz abgesagt worden, wenn ich nicht meinerseits angeboten hätte, für meine Inszenierung von Gottfried von Einems Oper »Der Besuch der alten Dame« auf zwei Bühnenproben zu verzichten, um die erforderlichen, aber in der engen Disposition der Mai-Festspiele nicht mehr machbaren Gesamtproben zur konzertanten Aufführung im Großen Haus des Hessischen Staatstheaters zu ermöglichen. Dies wurde kopfschüttelnd zur Kenntnis genommen (denn einen solchen Verzicht hatte man von einem jungen, aufstrebenden Regisseur nicht erwartet). Weiter in Frage gestellt wurde die Aufführung von Opus 8 durch die kurzfristige Absage eines Wiesbadener Buffotenors, der nicht an das Zustandekommen der Sonnenflammen geglaubt und die umfangreiche Partie des Gomella nicht gelernt hatte; doch auch hier wusste ich Rat und empfahl den britischen Tenor David Palmer (Herodes in meiner Regensburger »Salome«-Inszenierung), der die Partie schnell lernte und – insbesondere auch mit seiner szenischen Charakterisierung in der konzertanten Aufführung – besonderen Erfolg erntete. Mit Ende der Spielzeit 1967/77 hatte ich mich entschieden, mein Amt als Spielleiter am Musiktheater des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden aufzugeben um künftig als freier Regisseur zu arbeiten. Doch durch meinen Weggang fehlte Siegfried Köhler der aktive Mitstreiter im Hause für eine – insbesondere nach dem erneuten immensen Erfolg beim Publikum und in den Medien – selbstredend geplante Fortsetzung der Siegfried Wagner-Projekte. Daher Intensivierte Siegfried Köhler, der bereits im Mai 1977 der Internationalen Siegfried Wagner Gesellschaft e.V. beigetreten war, seine Aktivitäten für Siegfried Wagner insbesondere im Bereich Rundfunk. Als bei einer bis zur Klavierhauptprobe gediehenen Inszenierung der Oper An Allem ist Hütchen Schuld! am Städtebundtheater Hof im Jahre 1984 (in der Ausstattung von Dietrich Schoras in meiner Regie) vom Intendanten Gerd Nienstedt der als Gast engagierte Dirigent Julius Karr-Bertoli nach der ersten Orchesterprobe überraschend entlassen wurde, erklärte Siegfried Köhler spontan seine Bereitschaft, einzuspringen und diese Produktion zu retten. Doch dann stellte sich heraus, dass Gegenwind aus dem nahen Bayreuth den Intendanten dazu zwangen, die Produktion abzusetzen. Nienstedt, der sich selbst mit der Partie des Müllers (den er bereits in Wiesbaden verkörpert hatte) sowie der Partie des Teufels besetzt hatte, war schlecht studiert, was ebenfalls zu seiner übereilten Absetzung beigetragen hat. Siegfried Köhler erinnerte auf einer Langspielplatte »Raritäten aus dem Wiesbadener Opernspielplan [Vinyl LP]« an die Intialzündung mit Sternengebot im Jahre 1977 und spielte hierfür mit der Sopranistin Nadine Secunde und dem Orchester des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden die Schlussszene von Siegfried Wagners Opus 5 ein. Mit der Nordwestdeutschen Philharmonie Herford interpretierte Siegfried Köhler am 30. Januar 1981 die damals gerade erst wieder aufgefundene erste Symphonische Dichtung Siegfried Wagners, Sehnsucht und am 21. März 1986 mit demselben Klangkörper die Symphonische Dichtung Glück. An seiner früheren Wirkungsstätte Saarbrücken spielte Siegfried Köhler mit dem Radio-Sinfonie-Orchester das Vorspiel zu Das Flüchein, das Jeder mitbekam op. 18 für den Saarländischen Rundfunk ein, und – nach dem postum erfolgten Druck beim Max Brockhaus Musikverlag – auch die Symphonie (für den WDR Köln).
Im Februar 2004 schrieb er an den Verfasser: »Leider bin ich kein GMD mehr an einem Hause – ja – sonst wäre mein verehrter Siegfried bestimmt auf dem Konzert- oder Opernspielplan.« Und am 8. September 2005 schrieb er: »… wenn es klappt (terminlich) würde ich gerne beim Kobold mit dabei sein. Sie wissen ja, ich bin immer noch aktiv am Pult, hatte letzte Konzert in Duisburg – Nürnberg, eine Wagner Gala in Nizza – u. a. auch in Bad Hersfeld[.] – Im Januar 06 macht das Sinfonieorchester Heilbronn eine Hom[m]age für mich, mit nur Kompositionen von mir!! Habe ja dort 1942 als Harfenist begonnen – Ihnen weiterhin viel Erfolg – Wir sollten uns mal wieder sehen – Herzlich Ihr S. Köhler« Auch an den weiteren Produktionen von Opern Siegfried Wagners, die allesamt mit seiner ISWG realisiert wurden, nahm Siegfried Köhler, inzwischen (von 1992 bis 2005) als Königlicher Kapellmeister in Stockholm, von ferne regen Anteil. Noch im Seniorenheim in Wiesbaden studierte er mit Freude die ISWG-Veröffentlichungen, wie mir sein Sohn, Klaus-Dieter Köhler, am 16. August 2017 berichtete. Der Vollblutmusiker und Begründer der Siegfried Wagner-Wiederbelebung in Deutschland wird Allen, die ihn am Pult, am Fügel und im persönlichen Gespräch erlebt haben, mit seinen nachforschend analytischen Augen und mit seinen herzlichen, gerne auch schelmischen Blicken lebendig im Gedächtnis bleiben – und glücklicherweise auch mit seinen Tönen, dem diskografischen Vermächtnis, nicht zuletzt seinen Einspielungen der Werke Siegfried Wagners. Peter P. Pachl
Quelle: Originalbeitrag des Autors.
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