In der Sprechtheaterszene ist seit einigen Jahren ein Trend zu erkennen, die Sprachkunst nicht mehr mit Hilfe der verrücktesten Bühnenideen oder skandalträchtigen Inszenierungseinfällen zu überlagern, sondern das Theater mit Musik als Träger der emotionalen Ebene aufzuladen. Diese Verwandlung zum Musiksprechtheater drückt sich natürlich in vielen verschiedenen Ansätzen aus. Es werden Lieder verwendet, die eine gewisse Lebenseinstellung verkörpern und somit den Zuschauer gleich auf der Gefühlsebene in eine bestimmte Zeit versetzen, z. B. mit dem Hippy-Song in die späten Sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Ohne textuelle Beigabe wird sofort eine Verortung oder politische, gesellschaftliche Situation eindeutig fixiert. Ein anderes Mittel ist die ständige Wiederholung einer Musik eine ganze Aufführung hindurch, das sind mehr filmische Mittel, die die Bühnenhandlung oft in ein seltsam dichtes Vergnügen verwandeln. Bei einer gelungenen Form dieses Mittels fühlte ich mich in der Retrospektive tiefer in das Bühnengeschehen einbezogen. Andere Regisseure verwenden einfach ihre Lieblingsmusik, die sie als Theaternomaden auf ihrem MP3-Player in jedes Theater mitbringen und einstöpseln …
Als Bühnenbildner pflege ich u. a. seit vier Jahren eine enge Arbeitsgemeinschaft mit dem Regisseur Sebastian Klink. Neben Shakespeare und Beckett haben wir auch Heiner Müller und den jungen, sehr gefragten Nachwuchsdramatiker Fausto Paravidino gemeinsam auf die Bühne gebracht. Die Musikauswahl treffen wir immer gemeinsam, da wir von ganz unterschiedlichen Rändern der Musik kommen und uns so gegenseitig inspirieren und kontrollieren können.
Im Januar 2007 hatten wir Premiere im Theaterdiscounter Berlin mit »Philoktet« von Heiner Müller. Der große Monolog des Philoktet sollte mit einer Musik unterlegt werden, ich schlug den Anfang von SEHNSUCHT vor. Als dann in der Endprobenphase eine Diskussion mit anderen Spielern aufkam, die diese Musik in Frage stellten, wehrte sich der Darsteller des Philoktet Bodo Goldbeck vehement: »Ich hatte immer Schwierigkeiten mit diesem Monolog, seit dem ich die Musik dazu bekommen habe, kann ich hier am stärksten sein.« So verschmolz der harte Vers von Müller in dieser Szene mit dem Klang von Siegfried Wagner zu einer symbiotischen Einheit. Die Einsamkeit und die Sehnsucht konnten glaubhaft dargestellt werden.
Vor einigen Tagen nun hatten wir in Potsdam Premiere mit dem globalisierungskritischen Stück »Peanuts« von Fausto Paravidino. Dort einigten wir uns wieder auf ein Stück Siegfried Wagners für eine Szene, in der 10 der 11 jungen Schauspieler des Stücks sich zusammen auf dem Boden verknoteten. Dazu lief ein Ausschnitt aus GLÜCK! Eine befreundete Koloratursopranistin war so begeistert von diesem Gesamtbild, dass sie meinte, Musik und Szene wären so verschmolzen, dass sie nicht wusste, wo die Grenzen waren.
Oft werde ich von Zuschauern nach der Aufführung gefragt, von wem diese Musik stamme, da sie ihnen so gut gefiele. Als Mitglied der ISWG kann ich natürlich etwas genauer Auskunft geben.
Gregor Sturm