Erich Wolfgang Korngold hat auf Anraten seines Vaters das thematische Material von dreien seiner Filmkompositionen für das im Jahre 1947 entstandene Violinkonzert herangezogen, um seine Einfälle auch für den Konzertsaal zu bewahren.
Ähnlich dachte wohl bereits sein Zeitgenosse Siegfried Wagner, als er im Jahre 1915 bei der Komposition seines VIOLINKONZERTS Themen aus seiner Oper AN ALLEM IST HÜTCHEN SCHULD! erneut aufgriff und symphonisch verarbeitete. Und tatsächlich erklingt derzeit das KONZERT FÜR VIOLINE MIT BEGLEITUNG DES ORCHESTERS häufiger als die dreiaktige Märchencollage Opus 11.
Im Gedenkjahr 2005 gab es zwei herausragende Aufführungen: Zunächst interpretierte Peter Gülke am 8. Oktober die Komposition in einem Symphoniekonzert der Nürnberger Symphoniker mit Christiane Edinger als Solistin. Dieses Orchester hat sich seit Jahrzehnten mit dem Œuvre von Siegfried Wagner auseinandergesetzt, beginnend mit Gilbert Graf Gravinas LP-Einspielungen für das hauseigene Label Colosseum, mit dem VIOLINKONZERT (mit Jenny Abel als Solistin), dem KONZERTSTÜCK FÜR FLÖTE, der Ouvertüre zum BÄRENHÄUTER, dem Zwischenspiel GLAUBE aus dem HEIDENKÖNIG und dem Vorspiel zu AN ALLEM IST HÜTCHEN SCHULD!, fortgesetzt mit Aufführungen unter der Leitung von Werner Andreas Albert (so 2004 das Vorspiel zu DER FRIEDENSENGEL), kulminierend in Frank Strobels Einstudierung des ungekürzten Opus 3, DER KOBOLD, im September 2005.
Peter Gülke hat Siegfried Wagners VIOLINKONZERT bereits 1990 mit den Wuppertaler Symphonikern in der Philharmonie Köln und in Wupppertal zur Aufführung gebracht, ebenfalls mit Christiane Edinger, und mit einem Strich in der Durchführung. Für seine Nürnberger Neuinterpretation umrahmte Gülke das VIOLINKONZERT mit symphonischen Schubert-Fragmenten in der Orchestrierung des Dirigenten und der symphonischen Dichtung »Tod und Verklärung« von Richard Strauss. Im Gegensatz zu seiner Interpretation des Jahres 1990 hat Gülke nunmehr auch jene Stelle geopfert, in der sich die Komposition ins finale E-Dur schraubt. Für den Nachvollzug von Aufbau und Entwicklung erscheinen beide Kürzungen nicht förderlich für den Hörer. Zudem sind beide Striche hörbar, denn sie unterbrechen den ansonsten ungebremsten Fluss der Komposition. Gleichwohl boten die Nürnberger Symphoniker einen facettenreichen Klangteppich, auf dem die Solistin sich gut hätte entfalten können. Aber allzu oft waren Orchester und Soloinstrument auseinander. Zudem verzichtete die Solistin auf das Mitspielen der Tutti-Passagen, obgleich dies vom Komponisten in seinem KONZERT FÜR VIOLINE MIT BEGLEITUNG DES ORCHESTERS nicht nur programmatisch dramaturgisch, sondern auch unter rein musikalischen Aspekten bewusst verlangt wird: der individuelle Klang entsteht aus der Reihe der Gruppenkünstler.
Weit nachhaltiger in der Wirkung einer Aufführung dieser Komposition am 16. Dezember 2005 in Paris. Das Orchestre Symphonique Francilien umrahmte sie mit Richard Wagners »Siegfried-Idyll« und Beethovens Zweiter. Das Orchester, mit ausnahmslos jungen Instrumentalistinnen und Instrumentalisten, ging in der Èglise Notre-Dame-de-Lorette, unweit der Opéra Garnier, hoch motiviert, mit großer Spielfreude und Begeisterung ans Werk. Der blutjunge Dirigent Quentin Hindley ließ bereits beim »Siegfried-Idyll« alle Erdenschwere und Götterwelt des »Ring« weit hinter sich und deutete Richard Wagners häusliche Komposition als ein mediterranes Farbenspiel, darin verwandt der Interpretation des Dirigenten Siegfried Wagner, wie sie uns Tonträger erhalten haben. In Siegfried Wagners VIOLINKONZERT machte Hendley die Nähe seiner Lesart zu Debussy und zur französischen Musik deutlich, hier standen Debussy und Magnard gewissermaßen Pate, aber auch der Weg zur Minimal Music eines John Adams leuchte unmissverständlich auf. Tatsächlich ist jenes perpetuierende Ringen um die Tonika, das Gülke gestrichen hat, im Lichte unserer Erkenntnis als ein Vorgriff auf minimalistische Techniken zu verstehen. So rasant, wie die 26-jährige, japanisch-deutsche Französin Akémi Toyama-Mehlem den Solopart (in Siegfried Wagners Originalversion, also nicht in der Einrichtung von Henri Marteau) exerziert, hat man diesen Kampf des Individuums gegen eine konformistische Gesellschaft zuletzt von Peter Zazofsky 1986 in Berlin gehört – nur dass damals mit Heinrich Hollreiser ein Altroutinier das mitgerissene Orchester mäßigte, während in Paris ein genialischer Jungdirigent die Wogen hoch aufbranden ließ. Ein trefflicherer symphonischer Abschluss des Gedenkjahres zum 75. Todestag Siegfried Wagners war kaum denkbar: Das Ereignis in der französischen Metropole, dessen Management in den Händen unseres ISWG-Mitglieds Evelyne Lubert lag, soll Fortsetzungen erfahren.
PPP