Siegfried Wagner: Ouvertüre zu DER FRIEDENSENGEL, Oper in drei Akten op. 10
Nicht in den riesigen Schatten zu geraten, den der übermächtige Vater geworfen hatte – unter dem Zeichen dieses schier aussichtslosen Kampfes stand das Leben und Schaffen von Siegfried Wagner, 1869 geboren als einziger Sohn von Richard Wagner und Cosima von Bülow. Jung-Siegfried wollte denn auch zunächst gar nicht in die Fußstapfen des Vaters treten. Sein Hauptinteresse galt anfangs der Architektur, die er einige Semester studierte. Erst mit 23, während einer Fernostreise im Jahr 1892, entschied er sich dazu, Musiker zu werden und das Erbe des Vaters anzutreten – als Komponist und Dirigent, als Festspielleiter und Regisseur.
Nachromantik
Als Komponist kultivierte Siegfried Wagner eine nachromantische Tonsprache zwischen Jugendstil und Moderne. Sie distanziert sich insofern vom Stil des Vaters, als sie ihre Vorbilder und Orientierungsinstanzen in der Musik von dessen Antipoden sucht. Beim Casting für die Bayreuther Festspiele gefiel sich Siegfried Wagner darin, die Mitarbeiter zu schockieren, in dem er Verdi-Arien vorsingen ließ, und auch in seinen Werken offenbarte er seine Affinität für die Musik aus den Ländern jenseits der Alpen und des Rheins. Zahlreiche symphonische und konzertante Orchesterwerke umfasst sein Oeuvre, und mit insgesamt achtzehn Opern (plus deren Libretti) schrieb er mehr Bühnenwerke als sein Vater.
»Geradezu modern«
DER FRIEDENSENGEL war Siegfried Wagners zehnte Oper. Sie entstand in den Jahren 1913 und 1914, ging 1926 erstmals in Szene, um sogleich wieder von den Spielplänen zu verschwinden. Als das Stück dann 1975 – fast ein halbes Jahrhundert nach seiner Premiere – in einer konzertanten Aufführung in London erstmals wieder erklang, schrieb die Münchner »Abendzeitung«, dass der Stoff »geradezu modern anmutet«. Was dem Rezensenten als so zeitgemäß erschien war das Sujet der in Franken im 16. Jahrhundert spielenden Oper. Ihre zentralen Handlungsmotive lauten: Suizid, Ehebruch und »freie« Liebe, wobei der Autor dezidiert mit dem Selbstmörder und Ehebrecher sympathisiert und einen seiner Protagonisten die für die Entstehungszeit unerhörte Ablehnung der Institution »Ehe« aussprechen lässt:
D’rum rat‘ ich euch, verliebtes Paar,
O spart den Schwur vor dem Altar!
Lieben könnt ihr euch ja auch so!
Seid vergnügt und küsst euch froh!
Und wenn es euch nicht mehr behagt,
Geht auseinander! Unverzagt!
»Romantisierter Bach«
Die Ouvertüre (vom Komponisten als »Vorspiel« bezeichnet) ist ein großangelegtes Quasi-Adagio. Es »klingt wie ein romantisierter Bach«, schrieb der Siegfried-Wagner-Kenner Peter P. Pachl, und der Musikforscher Willy Hess hat in seiner Analyse darauf hingewiesen, dass darin die reguläre Sonatenform durch das Dichterische verändert wird: »Architektonisch-formal ist das Vorspiel durchaus fertig, harmonisch aber endet es auf einem Halbschluss und der Ganzschluss fällt mit dem Ende des Dramas, mit der Lösung des dramatischen Konfliktes zusammen.« Dieser obliegt dem titelgebenden »Friedensengel«, der als »heiliger Christ« am Ende Sünde und Schuld vom Selbstmörder und Ehebrecher hinwegnimmt und versöhnt.
Klaus Meyer – aus dem Programmheft zum Konzert der Nürnberger Symphoniker in der Meistersingerhalle am 27. März 2004